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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Autoren: Susanne Schädlich
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nicht vor die Tür gehen. Überstürzte Fahrt mit dem Auto, als es schon dämmerte. Die Stadt roch nach Rauch, die Luft nebelig davon. Die Wut entbrannt, bis zum Morgen. Danach Ausgangssperre für mehrere Tage, die National Guard rückte ein. Bürgerkriegsähnliche Zustände. Am Ende dreiundfünfzig Tote.
    Danach war Los Angeles eine andere Stadt. Danach beendete ich das College. Danach machte ich mich erst einmal auf nach Spanien. Pause von Amerika, Annäherung an Europa. Ein zaghafter Versuch. Bei dem Versuch ist es geblieben. Auch zwei Jahre später wieder, als ich nach Berlin zurückkam. Ich dachte, jetzt geht es. Ich dachte, warst lange genug weg. Wohnung in Schöneberg, wenn schon hier, dann dort. Aber es ging nicht. Warum? Vielleicht, weil am Flughafen der Uniformierte die Arme vor der Brust verschränkte und mich wie versteinert anblickte, als ich mit meinem Koffer an ihm vorbeischlenderte und sagte: »Hi.« Vielleicht, weil die Kassiererin im Supermarkt, als ich nach dem Bezahlen den Einkauf nicht einpackte, aus Gewohnheit wartete und sagte, dass in Amerika eingepackt würde, giftig zischte: »Wir sind hier aber nicht in Amerika.« Vielleicht, weil der Arzt, als ich ihm zur Begrüßung die Hand reichte und fragte, wie es ginge, sich setzte, mich verblüfft ansah und sagte: »Eigentlich schlecht.« Die Verbindlichkeit, die ich verinnerlicht hatte, den anderen, den freundlicheren Umgang mit Menschen, das Leben ein wenig leichter zu nehmen, als es ist, das passte nicht nach Deutschland. Amerika ist Improvisation, in vielen Dingen, Amerika ist Praxis, ich habe es erlebt, learning by doing, nicht das Festhalten an eisernen papierenen Gesetzen, vielleicht lag es daran. Oder an dem Einheitssog, von dem Deutschland damals erfasst war. Trotz der grenzenlosen Weite in Deutschland, beengte die Weite grenzenlos. Sofort wurde ich wieder in einen Strudel zurückgerissen. Darum war ich froh, als ich das Angebot erhielt, mich als Stipendiatin an der University of Southern California zu bewerben. Darum war ich glücklich, als ich das Stipendium bekam. Darum war ich erleichtert, als ich im Januar 1996 wieder abflog in Richtung Westen. Noch einmal verbrachte ich drei Jahre in Los Angeles, studierte und lehrte an der Universität. Erst dann kam ich erneut zurück, mit Mann und Kind nach Deutschland. Skeptisch zunächst, ob es funktionieren würde.
    Es ging, sogar in einer Wohnung im östlichen Teil Berlins, das 1999 noch graueste Einöde war. In den letzten zehn Jahren hat sich einiges geändert, Kneipen, Bars, Galerien. Viele sind hinzugezogen, und doch ist es noch immer die andere Hälfte.
    Noch immer existiert von der DDR ein weichgezeichnetes Bild, oder gar keins. Viele möchten sich lieber nur an das erinnern, was sie als gut empfunden haben, als an das Unangenehme. Viele unterschlagen die zerstörten Leben und die Repressionen, von denen auch die, die nicht betroffen waren, wussten, dass es sie gab.
    Ich muss Jürgen Fuchs zitieren, der 1995 in einem Artikel in der taz schrieb: »Wem die Fremde eine Rettung war, wird vielleicht verstehen, in welche Lage man zu Hause geraten kann, wenn Stasi-Unworte wie ›Zersetzung feindlich-negativer Kräfte‹ keinen Schrei der Empörung auslösen und ein Begriff wie ›geistige Verluderung‹ ungeniert in Schwange kommt. Als sei nichts gewesen.«

    Die Vergangenheit ist nicht zu Ende. Der Vater sagt: »Vor allem kann und will man nichts vergessen und lebt deshalb immer irgendwie ›aufgespalten‹. Wenn man sich dem aber stellt, hat man einen guten Überblick über sich selbst.« Ich denke: Aus Tausenden Kilometern Entfernung und nach einem Jahrzehnt bin ich wieder da, nicht mehr die aus dem Märchenviertel in Köpenick, auch nicht mehr die aus Berlin-Neukölln, sondern die aus Amerika, und auch die aus Neukölln und auch die aus dem Märchenviertel.
    Das ewige Herausreißen hat Spuren hinterlassen in uns allen. Nicht nur die innere Unbehaustheit, die einen lange begleitete und die erst Jahre später verschwand. Nicht nur das Gefühl, lieber keine Freundschaften zu schließen, das Herz lieber nicht an Menschen zu hängen, bevor sie Freunde wurden, weil man nicht wusste, ob man sie nicht schon bald wieder aufgeben musste. Mir ging es lange so. Sondern auch die Fähigkeit, später Orte leichter verlassen zu können, wenn es nötig war. Ich von Berlin West nach Düsseldorf, nach New York, nach Los Angeles und wieder nach Berlin. Die Mutter von Berlin West nach Stuttgart, nach
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