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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Autoren: Susanne Schädlich
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intelligent und elegant. Wir haben oft über die Kulturpolitik diskutiert. Als ich ihn zum letzten Mal traf, hat er sich von mir mit den Worten verabschiedet: Herr Schädlich, ich habe viel von Ihnen gelernt, und sich von mir mit Handschlag verabschiedet. Später habe ich diesen Gutsche noch einmal im Fernsehen gesehen. Er stand vor dem Tor Normannenstraße, als die Bürgerkomitees hineinwollten. Er hat vor der Kamera gesagt: Bitte, gehen Sie hinein, aber Sie werden nichts finden.

    Das hatte der Onkel auch gedacht. Ihm hatte man versichert, dass die Unterlagen über seine Spitzeltätigkeit in den Schredder gewandert seien. Er hatte sich in Sicherheit gewähnt, bis zum Anruf des Vaters. Der Vater musste den Onkel zur Rede stellen. Der Onkel hat sich, wie fast alle IMs, nicht selber offenbart. Wäre es nach ihm gegangen, niemand hätte von seinen Taten je etwas erfahren. Darum sein Schock über die Entdeckung. Darum hörte der Onkel auf den Rat des jüngeren Bruders. Er rief ein paar Leute an. Längst nicht alle, aber er konnte sagen, ich habe den und den angerufen. Der Vater wollte mehr, er hatte gehofft, dass sich der Onkel an der Aufklärung beteiligt. Der aber schwieg. Er sagte nicht, dass er dem Staatssicherheitsdienst die Meldung von der Schleusung gemacht hatte. Dass er Menschen ins Gefängnis gebracht hatte. Dass er auch in Polen und Ungarn tätig war, dass …
    Ich erinnere mich an die Zeit kurz nach seinem Tod. »Das war ein aggressiver Akt«, sagte Lilo Fuchs mir zwei Tage nach dem Schuss, »der war auch gegen euch gerichtet, ganz zum Schluss noch einmal, mit einem großen Knall.« Anrufe kamen: Der Tod setze andere Maßstäbe. Verzeihen könne man auch dem Toten. Als wir zögerten, zur Beerdigung zu gehen: Täter und Opfer seien sich erschreckend ähnlich. Wir mit unserer Kaltherzigkeit. Als wir nicht kamen: Wir seien »versaute Atheisten«. Und später noch: »Spitzeljagdmob« oder »Lust an Verleumdung«.
    Der Schuss hat gesessen, das Ziel nicht verfehlt.
    Denen, die ihn kannten, die ihn in ihren Akten gefunden haben, konnte er nichts vormachen. Nicht der Schwester. Nicht der Mutter, der er 1992 am Telefon gesagt hatte: »Ich habe herausgefunden, dass ich der geborene Verräter bin. Andererseits habe ich auch unbedingte Loyalität bewiesen. Der Verrat, die Illoyalität war eine Bestimmungsgröße meines Lebens.«
    Seinen neuen Bekannten erzählte er nicht von seinem Leben davor, von dem, was er getan hatte. Deshalb konnten sie sagen, als sie nach seinem Tod die Wahrheit aus der Zeitung erfuhren: »Ich fand seine Stasi-Geschichten nicht schlimm. Ich versuche mir kein Urteil anzumaßen, weil ich nicht alle Fakten kenne. Ich war nur bestürzt, dass es ihm damit so schlechtging.«
    Ich nicht. Ich bin bestürzt über die Bereitschaft, Entschuldigungen zu finden. Nach allem, was ich gelesen habe, macht mir die Nachsicht für solche wie den Onkel angst, weil Fakten unter den Tisch fallengelassen, weil die Dinge kleingeredet werden, weil es zwischen Täter und Opfer sehr wohl einen Unterschied gibt. IM »Schäfer« hat kein Rätsel aufgegeben. Er hat uns unser Vertrauen gestohlen. Wir versuchten, mit dem Verrat fertig zu werden, unser Misstrauen nicht auch auf andere zu übertragen. Der Onkel war ein Dieb, er hat sich uns gestohlen.

    Nach 1992 habe ich nicht wieder mit ihm gesprochen. Nicht wie die Mutter. Nicht wie der Vater, der den Onkel getroffen hatte. Wir alle versuchten, das Unfassbare zu fassen. Sie in Deutschland, ich in Los Angeles. Begreifen war ausgeschlossen. Die Zeit, die verstrich, holte mich wieder zurück ins Tagesgeschehen. Es war April. Die Stadt wartete auf ein Urteil, tagelang, es gab kein anderes Gesprächsthema als das, wie das Gericht urteilen würde über die vier Polizisten, die Rodney King beinahe totgeprügelt hatten, weil er auf dem Freeway zu schnell gefahren war. »Können wir nicht alle miteinander auskommen?« fragte er im Fernsehen. Und ich dachte: »Nein, das können wir nicht.«
    Viermal hörte man »Nicht schuldig«.
    »Das wird böse enden«, sagte die Freundin, die neben mir stand mit einer Tasse Kaffee. Ich ging trotzdem zum College. Um die Mittagszeit trat ich aus einem Gebäude auf dem Campus, es war gesagt worden, geht nach Hause, hier ist es nicht mehr sicher. Ich ging zum Bus. Drei Blocks weiter brannte schon ein Haus. Zu Hause schnelle Telefonate. Hier konnten wir nicht bleiben. Die Flammen waren schon zu nah. Warten auf die Freundin, die noch arbeitete. Bloß
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