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Imagica

Imagica

Titel: Imagica
Autoren: Clive Barker
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herabgeschwitzt zu sein, und in dem symmetrischen Gesicht verbarg sich eine Sehnsucht, die an Besessenheit grenzte.
    Eine halbe Woche nach jenem Treffen hörte Charlie, daß sich Judith von Gentle getrennt hatte und in ihrem Kummer Zuwendung brauchte. Unverzüglich erfüllte er dieses Be-dürfnis, und sie gab sich ihm mit einer Bereitwilligkeit hin, die seinen Instinkt bestätigte.
    Die Erinnerungen an den Triumph büßten den größten Teil ihres Glanzes ein, als Judith ihn verließ, und jetzt haftete der gleiche Schatten aus Sehnsucht und Verzagtheit an Estabrooks Miene, den er zuvor bei Gentle bemerkt hatte. In seinem Fall wurde er noch deutlicher sichtbar. Charlies Gesicht eignete sich sonst nicht dazu, Schwermut und Niedergeschlagenheit 8

    zum Ausdruck zu bringen. Mit sechsundfünfzig sah er wie sechzig oder noch älter aus; seine Züge waren fest und pragmatisch, die von Gentle weich und exklusiv. Bei Estabrook bestand das einzige Zugeständnis an Eitelkeit in einem sorgfältig gestutzten Schnurrbart unter einer Patriziernase: Er täuschte über eine zu volle Oberlippe hinweg, und dadurch hatte es den Anschein, als wölbte sich die Unterlippe weit vor.
    Als er nun durch dunkle Straßen fuhr, sah er sein Spiegelbild im Seitenfenster, betrachtete es skeptisch und dachte daran, daß er zum Gespött der Leute geworden war. Reminiszenzen trieben ihm Verlegenheitsröte in die Wangen - übertriebener, fast arroganter Stolz, wenn er mit Judith bei Empfängen erschien; scherzhafte Bemerkungen, mit denen er darauf hinwies, daß sie ihn wegen seiner Reinlichkeit liebte, aufgrund seines guten Geschmacks bei Bidets. Damals hatten die Zuhörer höflich gelächelt, doch jetzt lachten sie laut und machten sich über ihn lustig. Charlie empfand das als unerträglich und wußte: Er konnte den Schmerz der Demütigung nur überwinden, wenn er Judith für das Verbrechen bestrafte, ihn verlassen zu haben.
    Er wischte kondensierte Feuchtigkeit vom Fenster und blickte nach draußen.
    »Wo sind wir?« fragte er Chant.
    »Südlich des Flusses, Sir.«
    »Wo genau?«
    »Streatham.«
    Zwar hatte Estabrook dieses Viertel oft besucht - er besaß hier ein Kaufhaus -, aber als er nun in die Nacht starrte, erschien ihm alles fremd. Die Stadt war plötzlich ohne jeden Reiz.
    »Welches Geschlecht hat London?« überlegte er laut.
    »Darüber habe ich nie nachgedacht«, antwortete Chant.
    »Einst ist diese Metropole eine Frau gewesen«, fuhr Estabrook fort. »Die Stadt. Aber jetzt hat sie nichts Weibliches 9

    mehr an sich.«
    »Das wird sich mit dem nächsten Frühling ändern«, erwiderte Chant.
    »Ich bezweifle, ob einige Krokusse im Hyde Park genügen, um London in eine Lady zu verwandeln«, sagte Charlie. »Der alte Charme existiert nicht mehr.« Er seufzte. »Wie weit ist es noch?«
    »Eine Meile. Vielleicht auch etwas mehr.«
    »Und Sie sind ganz sicher, daß wir den Mann antreffen?«
    »Natürlich.«
    »Sie machen das nicht zum erstenmal, oder? Sie haben schon häufig... vermittelt?«
    »O ja«, bestätigte Chant. »Es liegt mir im Blut.« Das Blut war nicht durch und durch englisch. Chants Hautfarbe und sein Akzent verrieten ihn als Einwanderer. Estabrook vertraute ihm trotzdem, zumindest ein wenig.
    »Sind Sie nicht neugierig?« erkundigte er sich. »Möchten Sie nicht mehr erfahren?«
    »Ich vermeide es, mich mit solchen Dingen zu befassen. Ich biete Ihnen meine Dienste an und werde dafür bezahlt. Wenn Sie mir Ihre Gründe nennen wollen...«
    »Das ist nicht der Fall.«
    »Ich verstehe. Also hätte Neugier gar keinen Sinn, wie?«
    Eine kluge Einstellung, fand Estabrook. Nichts Unmögliches anzustreben - das erleichterte alles. Vielleicht sollte er diesen Trick lernen, bevor er zu alt wurde, bevor er sich Zeit wünschte, die ihm niemand geben konnte. Was Befriedigungen betraf, verlangte er nur wenig. Zum Beispiel hatte er Judith nie sexuell bedrängt - ihr Anblick stellte ihn ebenso zufrieden wie der Geschlechtsakt selbst. Ihre Erscheinung durchdrang ihn, und dadurch empfing er etwas von der Frau, nicht umgekehrt.
    Vielleicht hatte sie das schließlich begriffen und durchschaute Charlie? Vielleicht verließ sie ihn, um seiner Passivität zu entkommen, der ruhigen Muße unter dem Feuer, das ihre 10

    Schönheit in ihm entfachte. Wenn das stimmte, so schickte er sich nun an, Judiths Abscheu zu neutralisieren. Indem er einen Killer beauftragte, erbrachte er den Beweis, daß sie ihn unterschätzt hatte. Und im Tod würde sie ihren Fehler
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