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Imagica

Imagica

Titel: Imagica
Autoren: Clive Barker
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Tür«, erwiderte der Gitarrenspieler.
    Charlie zog sie zu. »Und setzen Sie sich. Theresa? Bring dem Herrn etwas. Bestimmt friert er.«
    Die Frau stellte eine kleine Porzellantasse vor ihm ab, gefüllt mit Brandy, der ihm wie Nektar erschien. Er leerte sie in einem Zug, und Theresa schenkte sofort nach. Estabrook trank auch die zweite Tasse aus, und daraufhin wurde sie erneut gefüllt.
    Beide Kinder schliefen inzwischen, und als Pie die Gitarre beiseite legte, um seinem Gast am Tisch Gesellschaft zu leisten, gab sich Estabrook einer angenehmen, vom Alkohol geschaffenen Benommenheit hin.
    In seinem ganzen Leben hatte Charlie nur zwei Schwarze näher kennengelernt: den Geschäftsführer einer Fliesenfabrik in Swindon und einen Kollegen seines Bruders. In beiden Fällen wünschte er sich keine engeren Beziehungen. Er gehörte zu den Leuten, die noch immer dem Kolonialismus nachtrauerten, und die Tatsache, daß in den Adern des Mannes vor ihm schwarzes Blut floß - unter anderem -, erneuerte den Zweifel daran, ob Chant die richtige Wahl getroffen hatte.
    Andererseits... vielleicht lag es nur am Brandy, aber Pie faszinierte ihn. Er sah nicht wie ein Killer aus. Das Gesicht war keineswegs steinern und leidenschaftslos, sondern ausdrucksvoll und sogar - Estabrook hätte diesen Gedanken nie in Worte gefaßt - ästhetisch. Hohe Wangenknochen, volle Lippen, schwere Lider mit langen Wimpern. Das dunkelblonde, lockige Haar reichte ihm bis auf die Schultern.
    Er wirkte älter, als Charlie aufgrund seiner beiden Kinder erwartet hatte.
    Pie mochte etwa dreißig sein, doch eine seltsame Müdigkeit schien auf Exzesse hinzudeuten. Kränklicher Glanz haftete der Haut an, als enthielten die Körperzellen Quecksilber. Es fiel schwer, den Blick auf ihn zu richten, erst recht nach zweieinhalb Tassen Brandy. Wenn Pie den Kopf bewegte...
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    Dann spülten subtile Wellen über seine Wangenknochen, die Haut saugte ihre Gischt auf und gewann dabei Farbtönungen, die auf lebendem Fleisch verblüfften.
    Theresa ließ die beiden Männer allein und nahm neben der Wiege Platz. Estabrook flüsterte, nicht nur aus Rücksicht auf die beiden schlafenden Kinder. Es widerstrebte ihm in dieser Umgebung, sein Anliegen mit lauter Stimme vorzutragen.
    »Hat Chant Ihnen erklärt, warum ich hier bin?«
    »Natürlich«, sagte Pie. »Sie möchten, daß jemand stirbt.« Er zog ein zerknittertes Päckchen aus der Brusttasche des Jeanshemds und bot Estabrook eine Zigarette an. Charlie schüttelte den Kopf. »Deshalb sind Sie hier, nicht wahr?«
    »Ja«, bestätigte der Besucher. »Allerdings...«
    »Nachdem Sie mich gesehen haben, glauben Sie nicht mehr, daß ich der Richtige für den Job bin«, stellte Pie fest und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen. »Seien Sie ehrlich.«
    »Nun, Sie sind nicht unbedingt der Mann, den ich erwartet habe«, entgegnete Estabrook.
    »Um so besser.« Pie holte ein Feuerzeug hervor.
    »Andernfalls sähe ich wie ein Killer aus, und dann fänden Sie mich zu auffällig.«
    »Vielleicht.«
    »Wenn Sie auf meine Hilfe verzichten möchten... In Ordnung. Chant kann Ihnen bestimmt jemand anders besorgen.
    Aber wenn Sie mir den Auftrag erteilen wollen - in dem Fall sollten Sie mir alles erklären.«
    Estabrook beobachtete, wie der Zigarettenrauch an grauen Augen vorbei nach oben kräuselte, und plötzlich vergaß er seine Vorsätze und erzählte die ganze Geschichte.
    Er hatte sich vorgenommen, den Mann zu befragen und seinen eigenen Hintergrund zu verbergen, um dem Killer möglichst wenige Ansatzpunkte zu geben, aber jetzt berichtete er mit einer Offenheit, die ihn selbst erstaunte, von der Tragödie und ließ keine Details aus. Einige Male unterbrach er 17

    sich zwar, aber dann tat es doch gut, die Last abzustreifen, und deshalb brachte er die Zunge nicht unter Kontrolle. Pie hörte aufmerksam zu, und Charlie kehrte erst ins Hier und Heute zurück, als Chant an die Tür klopfte. Bis dahin hatte er alle Einzelheiten geschildert.
    Pie öffnete, lud den Vermittler jedoch nicht ins Innere des Wohnwagens ein. »Wir kommen zum Wagen, wenn wir fertig sind«, wandte er sich an Chant. »Es dauert nicht mehr lange.«
    Er schloß die Tür und kehrte zum Tisch zurück. »Noch etwas zu trinken?«
    Estabrook lehnte ab, nahm aber eine Zigarette, als sie das Gespräch fortsetzten. Pie erkundigte sich nach Judiths Aufenthaltsort sowie ihrer täglichen Routine, und Charlie antwortete mit monotoner Stimme. Schließlich das Honorar: zehntausend
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