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Im Zeichen der Roten Sonne

Im Zeichen der Roten Sonne

Titel: Im Zeichen der Roten Sonne
Autoren: Federica de Cesco
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Sand bestreuten Innenhof. Das runde Strohdach wurde von zwölf purpurnen Holzsäulen getragen. Alle Gänge und Säle waren mit schwarz geränderten Binsenmatten ausgelegt. Bei Bedarf konnten die Räume durch Schiebewände vergrößert werden, sodass viele Leute darin Platz fanden. Ein offener Gang führte zu den Wohnungen der Adligen und der zahlreichen Höflinge, während Offiziere und königliche Wachen im Nebengebäude untergebracht waren.
    Ich hatte meine Mutter seit mehr als zwei Monden nicht gesehen. Das war nichts Ungewöhnliches. Sie bedurfte der Einsamkeit, um ihren Geist den Schwingungen der Unsichtbaren Welt zu nähern. Dennoch vernachlässigte sie die Geschäfte des Königreiches nicht. Scharfsinn und Klugheit prägten ihre Entscheidungen. Ihre Weisheit rechtfertigte die Strenge oder Milde ihrer Urteile. Unter ihrer Herrschaft war Yamatai ein mächtiges und blühendes Land geworden. Nur an bestimmten symbolischen Tagen zeigte sich die Königin dem Volk. Am ersten Tag des ersten Monats im Jahr ging sie auf die Felder, begleitet von ihren Priesterinnen. Mit einem Pflug brach sie die erste Furche, um das neue Jahr einzuleiten und die Fruchtbarkeit der Erde zu beschwören. In der darauffolgenden Nacht wurden große Feuer angezündet. Die Leute zogen singend und tanzend durch die Straßen, berauschten sich an Reiswein und ergaben sich der Liebe, wie es gerade kam. Zweimal jährlich dann, zur Sonnenwende, brachte die Königin im Heiligtum von Sugati der Sonnengöttin Amaterasu den geweihten Opferreis dar. Sie empfing auch ausländische Gesandtschaften aus Übersee und übernahm den Vorsitz beim üblichen Geschenkeaustausch. Sonst blieb sie dem öffentlichen Leben fern, nahm weder an Jagdausflügen noch Festgelagen, weder am Wettdichten noch an sonstigen bei Hofe üblichen Vergnügungen teil.
    Vor dem königlichen Gemach stand keine Wache. Nur ein etwa vierzehnjähiger Junge, schlicht gekleidet und mit einem weißen Stirnband, kniete bescheiden im Halbdunkel. Saho, der Page meiner Mutter, war es, der ihr zweimal am Tag die Mahlzeiten brachte. Die Königin ernährte sich ausschließlich von Reis, Gemüse und Früchten. Es war verboten, ihr beim Essen zuzusehen. Saho ordnete die Speisen auf einem Lacktablett an und zog sich dann hinter die Schiebewand zurück. Hatte meine Mutter ihre Mahlzeit beendet, räumte Saho das Geschirr wieder ab.
    Mit einer stummen Verbeugung goss er aus einem Krug etwas Wasser in eine Schale, in der ich mir, wie es der Brauch vorschrieb, die Hände wusch. Nachdem ich sie mit einem weißen Tuch abgetrocknet hatte, kniete Saho erneut nieder und schob die Trennwand beiseite.
    Ich betrat das Gemach meiner Mutter.
    Nur das Knistern einer Pechfackel, die in einem Eisenring an einem Pfosten befestigt war, durchbrach die Stille. Das Licht schimmerte auf den mächtigen Tragpfeilern; sie waren aus dem geschuppten Stamm einer Tanne gemacht und so poliert, dass sie honigfarben glänzten. In dem Raum, der in seiner kargen Schlichtheit einem Heiligtum glich, befanden sich ein Kohlenbecken auf einem Dreifuß, ein Schreibgestell aus karminrotem Lack, eine Bronzescheibe mit ihrem Schläger und ein Webstuhl. Wie eine stille Lichtfigur kniete Königin Himiko auf einer Matte aus gepresstem Reisstroh.
    Das wunderbar schlichte Haar fiel über ihren Rücken und die weiten Flügelärmel bis hinab zu den Hüften. Ihr weißes Gewand mit dem scharlachroten Unterkleid lag in geraden Falten um ihre Knie. Sie saß vollkommen reglos, beide Hände im Schoß gefaltet. In ihrem gepuderten Antlitz lebten nur die Augen, schwarze Steine im Schatten der Wimpern.
    Ich sank nieder und berührte mit der Stirn die Matte. So verharrte ich, bis meine Mutter mit den Worten »Komm näher!« die Stille brach.
    Ihre Stimme war klar und kühl; eine ruhige, befehlsgewohnte Stimme, die nie laut zu werden brauchte. Und obwohl ihre erste Frage gleichmütig klang, bewirkten ihre durchdringenden Augen, dass mir der Schweiß ausbrach:
    Â»Nun? Was hast du gesehen?«
    Ich antwortete, den Blick gesenkt:
    Â»Ich sah einen Vogel. Und dann wurde ich selbst zu diesem Vogel …«
    Sie schaute mich an und wartete. Ich befeuchtete meine Lippen.
    Â»Als ich der Vogel war, flog ich über die Inseln. Die Feinde hielten sich im Wald verborgen, aber ich sah ihre Waffen blitzen.«
    Â»Die Sperbermenschen
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