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Im Zeichen der Roten Sonne

Im Zeichen der Roten Sonne

Titel: Im Zeichen der Roten Sonne
Autoren: Federica de Cesco
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Halbdunkel empor und stieg mit ruhigen, mühelosen Bewegungen der Helle entgegen. Sein bronzefarbener Rücken flimmerte in der Sonne. Er war riesengroß und schwamm völlig lautlos. Ich hatte solch einen Hai noch niemals in Küstennähe erblickt. An diesem Tag, an dem mir alles merkwürdig vorkam, wurde auch er zu einem Zeichen, und ich erkannte in ihm einen Boten der Unterwelt.
    Doch ich fürchtete ihn nicht; er würde mir kein Leid zufügen, denn ich trug die heiligen »Tamas«, das Symbol des uralten Paktes mit dem Tierreich. Es waren zwei Lederarmbänder, an denen Steine in der Form von Bärenkrallen hingen. Ich wusste von meiner Mutter, dass es sich einst um wirkliche Krallen gehandelt hatte. Töteten unsere Vorfahren einen Bären, verspeisten sie seine rohe Leber und schmückten sich mit seinen Krallen. Auf diese Weise erlangten sie die Stärke des Tieres und machten es zu ihrem Schutzgeist. Es war eine gewaltige heilige Handlung, und sie geschah zu Beginn der Zeiten, als die Geschöpfe manchmal Tiere, manchmal Menschen waren und die gleiche Sprache teilten. Man erzählte sich zwar, dass in den tiefen Wäldern des Nordens noch ein Volk mit den Bären vertrauensvoll lebte und ihre Sprache verstand, aber die meisten glaubten nicht, dass so ein Ding heute noch möglich sei. Jedenfalls trugen nur die Nachkommen des Königsgeschlechtes von Yamatai die »Tamas«, als Zeichen dafür, dass die Kraft der Bären in ihnen wirkte. Für Männer waren die Steine grünlich, für Frauen rötlich, doch durften sie bei bestimmten Anlässen - zum Beispiel Hochzeiten - ausgetauscht werden.
    So beobachtete ich furchtlos den Hai, der langsam unter mir vorbeizog und in der Tiefe verschwand. Im Wasser schweiften meine Gedanken stets ab und ich ließ sie ziehen. Erst wenn mein Geist mir völlig weiß und leer vorkam, sprach die Gottheit zu mir und gab mir ein Zeichen, etwas, was gesehen oder gehört werden konnte.
    Nach einer Weile ließ ich mich von einer Welle an den Strand tragen und zog mich an den Felsen hoch. Trotz des warmen Windes spürte ich, wie ich fröstelte. Die Unruhe hatte mich nicht verlassen; im Gegenteil, sie kam mir noch stärker und dringender zu Bewusstsein. Eine unerklärliche Angst schnürte mir die Kehle zu. Wachsam und gespannt schweiften meine Augen umher. In der Ferne blähte sich eine weiße Wolke über einer Gruppe kleiner, baumbewachsener Inseln, die bei Ebbe zu Fuß erreichbar waren. Den Leuten von Amôda war dieser Weg vertraut, doch hielten sie ihn vor Fremden geheim. In Kriegszeiten stellte dieser natürliche Pfad eine Bedrohung dar, da die Stadt zur Meeresseite hin nicht befestigt war.
    Ich kniff die Augen zusammen, beobachtete die von weißen Wellenkronen umspülten Riffe. Über den Klippen schwebte ein Sperber in weit ausholenden Kreisen. Ab und zu trug mir der Wind seinen kurzen, durchdringenden Schrei zu. Meine Augen, die nichts Ungewöhnliches bemerkten, ließen von ihm ab und wanderten nach Westen, wo sich die Heilige Insel erhob. Sie war einzigartig, sowohl in ihrer Gestalt und Größe als auch ihrer Bedeutung wegen: ein vollkommen ebenmäßig geformter Basaltkegel, der in der Morgendämmerung den ersten Sonnenstrahl einfing. Der Ozean hatte die Klippen so lange umspült, gefeilt und geglättet, bis sie wie schwarz glänzende Spiegel aus den Wellen ragten. Je nach Tages- oder Jahreszeit veränderte das bewegte Spiel von Licht und Schatten ihr Aussehen, verwandelte sie zu Schaum oder Pechkohle, zu Gold oder Kupfer. Bald schwebten sie im schimmernden Nebel, bald erstrahlten sie von Purpur gekrönt. In der Mittagshitze schien die Insel blass und fern, brach aber die Nacht herein, wuchs sie zu einem Dreieck von riesigem Ausmaß heran, das die aufgehenden Sternenbilder verdunkelte.
    Ein Seufzer entfuhr mir. Voller Wehmut entsann ich mich der Zeit, die ich auf der Insel verbracht hatte. Das Antlitz der Hüterin des Feuers, die mich in der Lehre der Großen Vorfahren unterwiesen hatte, zeigte sich mir plötzlich mit aller Deutlichkeit. Ich vermeinte, ihre wissenden Augen zu sehen, die Bewegungen ihrer Lippen; glaubte, im Seufzen des Windes ihre leise, klare Stimme zu vernehmen.
    Â»Hüterin des Feuers«, sprach ich zu ihr in der Stille meines Herzens. »Ich spüre Furcht und sehe nicht, was sie verursacht. Du hast mir nie etwas Falsches gesagt. Schicke mir
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