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Im Zeichen der Roten Sonne

Im Zeichen der Roten Sonne

Titel: Im Zeichen der Roten Sonne
Autoren: Federica de Cesco
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wenig zu ruhen. Die junge Priesterin war müde und schlief bald ein.
    Ich träumte weiter: Das Knacken von Zweigen ließ meine Mutter aufblicken. Ein Hirsch brach aus dem Dickicht. Das mächtige Tier schien verfolgt zu werden: Seine Flanken bebten, sein Fell war schweißnass. Mit einem Sprung setzte es über den Bach. Kaum war es im Unterholz verschwunden, als ein junger Mann am Fuß des Wasserfalles auftauchte. Er sprang von Stein zu Stein, um das Wasser zu überqueren. Er trug einen Bogen und einen mit Pfeilen gefüllten Köcher. Ich stellte ihn mir hochgewachsen und kühn und schön vor.
    Wusste er, dass das Mädchen im roten Gewand die Königin war? Er wusste es sicherlich, doch sah er ihr voll ins Gesicht. Ihre Haut hatte die Farbe von Aprikosen, ihre Augen waren unergründlich. Im flimmernden Halbschatten betrachteten sie sich stumm. Dann legte er die Waffen nieder und ging auf sie zu. Vielleicht war auch sie es, die ihm entgegenschritt, leichtfüßig, bezaubernd … Immer an dieser Stelle gebot ich meiner Fantasie Einhalt.
    Weil mir die Wahrheit verborgen blieb, mochte es ja sein, dass mich Trugbilder verwirrten. Denn ich war jung, fühlte zu viel und überlegte zu wenig, hörte nur, was zu hören ich bereit war, und nicht, was wirklich gesagt wurde. Auch das Getuschel der Dienstboten berührte mich nicht. Meine Mutter war die Königin! Ich wagte kaum zu denken, dass ich sie sie vor allem wegen ihres Geheimnisses liebte.

    Man entdeckte sehr bald, dass ich eine Schamanentochter war. Dies und meine rätselhafte Abstammung bestimmten schon frühzeitig meine Erziehung. Da ich von der Göttin auserwählt war und diese durch meinen Mund sprach, wurde meine Erziehung älteren Priesterinnen anvertraut. Sie waren weise, gütig und fröhlich, sodass trotz vieler Pflichten meine Kindheit glücklich verlief. Ich lernte, meine hellseherischen Fähigkeiten zu entwickeln, Visionen zu erleben und Träume zu deuten. Man unterwies mich in allen Formen des Tempeldienstes. Ich lernte, Seide zu spinnen, aufzuspulen und zu weben. Als Erbin des Königreiches wurde ich auch in Schreiben, Mathematik und Sternenkunde unterrichtet. Man brachte mir die Eigenschaften der Pflanzen bei, die Geheimnisse der Metalle. Ich lernte die Dichtkunst ebenso wie die Kriegsführung.
    Meine Ausbildung sollte jedoch ein plötzliches Ende nehmen. Weil eine Schuld auf mir lastete, verbannte mich meine Mutter auf die Heilige Insel, wo die Hüterin des Feuers mir die volle Tragweite meiner Pflichten vor Augen führte. Es war eine milde Strafe für ein folgenschweres Vergehen; die tragische Verkettung der Ereignisse bedrohte noch heute unser Volk. Doch inzwischen war ich reifer geworden. Und obwohl die Erinnerungen wie schmerzende Wunden in mir brannten, konnte ich der Frage nicht ausweichen: War ich, die ich mich für die Ursache des Unglücks hielt, vielleicht lediglich das Werkzeug jener Höheren Macht, die für Menschen wie für Königreiche das Schicksalsmuster webte?
    Ich nahm an, dass meine Mutter die Antwort bereits wusste. Warum hätte sie sonst zu den Waffen gegriffen?

    Wir nannten das Volk aus dem Lande Kuna »Sperbermenschen«, weil sie beim Kampf Federmasken trugen, um den Feind abzuschrecken. Sie waren nur einer von einundzwanzig Eingeborenenstämmen, die meine Vorfahren einst unterworfen hatten, denn diese gehörten zu den ersten Menschen, die sich Schwerter aus Bronze gemacht hatten. Die besiegten Ureinwohner, die einst nackt in den Wäldern lebten, hatten mit der Zeit gelernt, sich zu bekleiden und Hütten zu bauen. Sie ernährten sich jedoch weiterhin - allerdings im Geheimen - von rohem Fleisch. Ihr Land war reich an Bodenschätzen. Wir förderten dort Eisen, Kupfer, Gold und Edelsteine, um mit den Ländern von Übersee Handel zu treiben. Als Waldbewohner hatten diese Menschen eine Waffe von tödlicher Wirksamkeit entwickelt: Bei günstiger Windrichtung schossen sie mit Blasrohren Pfeile ab, die mit einem starken Gift getränkt waren. Es hieß, dass sie den Saft bestimmter Pflanzen, die nur bei Neumond wuchsen, auf die verwesten Eingeweide erlegter Tiere einwirken ließen. Das Opfer starb nicht auf der Stelle. Sein Körper wurde nach und nach gelähmt. Das Gehirn blieb unversehrt, sodass der Unglückliche bis zu seinem letzten Atemzug das Bewusstsein behielt. Einige zogen diesem langsamen Dahinsiechen vor,
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