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Im Zauber der Gefuehle

Titel: Im Zauber der Gefuehle
Autoren: Lisa Kleypas
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dass er sich ehrenhaft verhielt.
    »Lord Sydney.« Eine Männerstimme unterbrach seine Gedanken, und Nick wandte sich seinem Gastgeber Lord Marcus Westcliff zu. Der Graf war eine beeindruckende Gestalt. Zwar war er nicht sonderlich groß, doch er besaß breite Schultern, war außergewöhnlich muskulös und wirkte stark wie ein Bulle. Er hatte verwegene, markante Gesichtszüge und tief liegende, schwarze Augen in einem wettergegerbtem Gesicht.
    Westcliff sah nicht im Geringsten wie der schmächtige, blasse Adel aus, der die Spitze der vornehmen englischen Gesellschaft bildete. Ohne seine elegante Abendkleidung wäre man versucht, ihn für einen Hafenarbeiter oder einen Wandergesellen zu halten. Trotzdem bestand kein Zweifel daran, dass Westcliffs Blut blau war. Er hatte einen der ältesten Grafentitel des Landes geerbt, eine Krone, die seine Vorfahren im ausgehenden vierzehnten Jahrhundert erhalten hatten. Ironischerweise hieß es, der Graf sei kein stürmischer Befürworter der Monarchie, ja, noch nicht einmal des Erbadels, da er glaubte, dass kein Mensch den Mühen und Sorgen des gewöhnlichen Alltags enthoben sein sollte.
    Westcliff fuhr in seiner unverwechselbaren, rauen Stimme fort. »Willkommen auf Stony Cross, Sydney.«
    Nick deutete eine Verbeugung an. »Danke, Mylord.«
    Der Graf betrachtete ihn, ohne eine gewisse Skepsis zu verhehlen. »Sir Ross erwähnte in seinem Brief, dass Ihr an ennui leidet.« Sein Tonfall machte deutlich, dass er nicht das geringste Mitgefühl für Reiche übrig hatte, die sich über maßlose Langeweile beklagten.
    Nick erging es ebenso, und es missfiel ihm, den dekadenten Aristokraten mimen zu müssen, doch dies war Teil seiner Tarnung. »Ja«, erwiderte er mit einem müden Lächeln. »Ein lähmender Zustand. Ich bin geradezu melancholisch geworden, weshalb man mir zu einem Tapetenwechsel riet.«
    Der Graf schnaubte verächtlich. »Ich kann Euch eine ausgezeichnete Kur gegen Langeweile empfehlen — tut einfach etwas Nützliches!«
    »Soll ich am Ende etwa arbeiten ?« Nick verzog angewidert das Gesicht. »Das mag bei anderen helfen, mein Fall von ennui erfordert eine ausgeglichene Mischung aus Ruhe und Unterhaltung.«
    Westcliff warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Wir werden uns alle Mühe geben, Euch zu Eurer Zufriedenheit mit beidem zu versorgen.«
    »Ich kann es kaum erwarten«, murmelte Nick, wobei er darauf achtete, dialektfrei zu sprechen. Obwohl er als Sohn eines Viscounts zur Welt gekommen war, hatten die vielen Jahre in der Londoner Unterwelt seiner Aussprache nicht eben gut getan. Sprachlich war es für ihn natürlicher, sich in einer zweifelhaften Hafenkaschemme durchzusetzen als bei einer feinen Abendgesellschaft. »Im Moment hätte ich große Lust auf einen Drink, Westcliff, bevor ich dann hoffentlich die Bekanntschaft einer verführerischen Schönheit mache.«
    »Ich habe einen erstklassigen Longueville Armagnac«, murmelte der Graf, dem daran gelegen zu sein schien, Nicks Gesellschaft zu entkommen.
    »Fabelhaft!«
    »Gut, ich werde einem Diener Bescheid geben, dass er Euch ein Glas bringt.« Westcliff drehte sich um und entfernte sich.
    »Ach, und die verführerische Schönheit?«, rief Nick ihm nach und musste sich ein Lachen verbeißen, als er sah, wie sich der Rücken des anderen bei seinen Worten versteifte.
    »Das, Sydney, ist eine Angelegenheit, die ich Euch nicht abnehmen kann.«
    Als der Graf die Terrasse verließ, gestattete Nick sich ein verstohlenes Grinsen. Bisher spielte er die Rolle des verwöhnten jungen Adeligen mit großem Erfolg; immerhin war es ihm gelungen, den Grafen auf die Palme zu bringen. Dabei mochte er Westcliff im Grunde, da ihm selbst die eiserne Willenskraft und der abgrundtiefe Zynismus nicht fremd waren, die dieser zu besitzen schien.
    Gedankenversunken stieg Nick die Treppen zu den Gärten hinab, die neben den offenen Flächen auch zahlreiche abgeschirmte, intimere Ecken boten. Es war schwül und roch nach Heidekraut und Sumpfmyrte. Ziervögel in einer großen Voliere zwitscherten aufgebracht, als er näher kam. Für viele klang es sicher nach fröhlichem Gezeter, doch in Nicks Ohren schwang Verzweiflung in den unaufhörlichen Schreien der gefangenen Tiere mit. Am liebsten hätte er die Käfigtür geöffnet und die verfluchten Vögel freigelassen, doch es würde nichts helfen, da man ihnen die Flügel gestutzt hatte.
    Es war schon spät. Vielleicht befand Charlotte sich im Haus. Nick ging daran, die Umgebung zu erkunden, und
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