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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie
Autoren: Jean-Christophe Grange
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fernzuhalten, wie es am Vortag der Gaucho getan hatte.
    Sie machten es sich im Zelt bequem. Jeanne hatte jedes Zeit-und Raumgefühl verloren. Mit den Kleidern in ihrem Schlafsack auf dem Rücken liegend, betrachtete sie die Leuchtspur der Glühwürmchen, die zwischen den Bäumen herumschwirrten. Sie war so erschöpft, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Unmöglich, sich vorzustellen, was der nächste Tag – oder auch die kommende Nacht – bringen würde. Und noch immer nicht die geringste Angst. Vielleicht, weil sie die HK 9 mm in ihrem Rücken spürte.
    Schon im Halbschlaf dachte sie an Féraud, der reglos neben ihr lag und noch immer seine schwarze Brille trug. Sie erinnerte sich, wie sie auf einer Bank in den Gärten der Champs-Élysées von einer leidenschaftlichen Liebesaffäre mit diesem Mann geträumt hatte. Sie vergegenwärtigte sich jedes Detail und hätte am liebsten im Dunkeln losgelacht.
    Die Stimme von François Taine: Ich wette, dass du keinen einzigen Witz kennst.
    Doch, sie kannte einen.
    Ihre eigene Geschichte.

 
    84
    Am nächsten Morgen war ihr gesamtes Gepäck verschwunden.
    Dabei hatten sie extra alles im Zelt verstaut. Das bedeutete, dass jemand eingedrungen war, die Rucksäcke gestohlen und anschließend das Zelt wieder zugemacht hatte. Warum? Wenn es die Anderen gewesen waren, warum hatten sie sie dann nicht umgebracht? Féraud schwieg hinter seiner schwarzen Brille.
    Jeanne verstand die Botschaft. Sie sollten »nackt«, schutzlos, ohne alle modernen Geräte auf Alfonso Palins Territorium eintreffen. Davon war sie mittlerweile überzeugt. Die Ungeborenen gehorchten den Befehlen des alten Zentauren. Und sie verehrten seinen Sohn: Joachim.
    »Gehen wir nach draußen«, sagte Jeanne.
    Sie warfen einen Blick nach draußen und kletterten dann aus dem Zelt. Alles war in einen grünlichen Dunst gehüllt. Auch die Kleidungsstücke, die sie auf die Büsche gelegt hatten, waren verschwunden. Keine Fußabdrücke. Nichts, was darauf hindeutete, dass hier jemand vorbeigekommen war. Kein ausgerissener Strauch, kein gebrochener Ast. Man hätte meinen können, die Diebe wären Geister gewesen, die sich im Dunst auflösten.
    Jeanne ging ein paar Meter weiter auf dem Trampelpfad entlang. Niemand. Sie bemühte sich, klar zu denken. Wenn sie noch nicht tot waren, so deshalb, weil man wollte, dass sie ihr Ziel erreichten.
    Und dieses Ziel war ganz nahe ...
    Sie mussten nur dem Laterit-Pfad folgen, der rechts abzweigte.
    Der rote Faden, der zum Eingang der Unterwelt führte.
    Sie brachen auf, zitternd und mit leerem Magen, ohne sich die Mühe zu machen, ihr Zelt zusammenzulegen. Eine Stunde. Vielleicht zwei Stunden. Keiner von beiden kam auf die Idee, auf die Uhr zu sehen. Wie Schlafwandler marschierten sie durch die Dunstschwaden. Jeanne musste an den feuchten Atem eines dantesken Monsters denken. Sie stapften durch seinen Schlund, der die Form eines Kraters hatte.
    Plötzlich tauchte ein weitläufiges flaches Gelände auf, das nur mit einigen Palmen bepflanzt war. Der Ort erinnerte an die Estancia vom Vortag, wenngleich seine klare Form inmitten dieses unermesslichen Dschungels einem gewaltigen Kornkreis ähnelte.
    Vorsichtig verließen sie ihre Deckung. Seit sie aufgebrochen waren, hatten sie kein Wort miteinander gewechselt. Der Dschungel hatte ihnen förmlich die Sprache geraubt. Auf der Lichtung zeichnete sich bald eine Gruppe von Gebäuden ab. Scheunen aus rotem Backstein. Koppeln mit weißen Holzgattern. Einige Pferde mit kurzgeschnittener Mähne.
    Ein idyllisches Bild.
    Und vollkommene Stille.
    Keine Hunde. Keine Wachposten. Nicht das geringste bedrohliche Element. Jeanne sah sich nach der Landebahn um. Sie entdeckte sie auf der rechten Seite, hinter Eukalyptusbäumen. Kein Flugzeug zu sehen. Der Admiral und sein Sohn waren also nicht da ... Unmöglich.
    Die wilde Vegetation wich jetzt Rasenflächen, die erst vor kurzem gemäht worden waren. Unter den Gebäuden erspähte Jeanne die Villa. Hohe kalkgetünchte Mauern, Blechdächer ... Sie drehte sich zu Féraud um, der nickte. Sie waren am Ziel. Herrgott, sie hatten es geschafft ...
    Jeanne blickte ein letztes Mal um sich. Kein Vogelgezwitscher, kein Summen von Insekten. Mit einem Mal wirkte die Abgeschiedenheit des Ortes beklemmend. Alles schien wie gelähmt durch eine drohende Gefahr.
    Jeanne stieg die Stufen hinauf. Öffnete die Tür, die durch ein Fliegengitter geschützt wurde, aber nicht abgeschlossen war. Gelangte in ein Wohnzimmer,
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