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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie
Autoren: Jean-Christophe Grange
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tatsächlich begegnet war – den Psychiater –, erfunden, ausgedacht, von A bis Z konstruiert.
    Aber es gab nur einen Mann.
    Einen Mann, in dem sich mehrere Persönlichkeiten verbargen. Diejenigen, die sein Leben geprägt hatten und die sich, Jahr für Jahr, tief in seiner Seele übereinandergeschichtet hatten. Im Geiste packte Jeanne sie nacheinander aus, wie blutrot bemalte russische Puppen. Das kannibalistische Kind aus Campo Alegre. Der Jugendliche von Buenos Aires, der studiert hatte und Rechtsanwalt geworden war. Der Vater, Admiral Palin, der im Wald der Manen aufgefressen worden war. Und schließlich Antoine Féraud, der Pariser Psychiater, der schüchterne, geizige Vegetarier und Hochstapler, der in aller Ruhe den Ausführungen seiner Patienten lauschte und ihre Neurosen beobachtete, wie man Reptilien in einem Terrarium betrachtet. Unterschiedliche, manchmal gegensätzliche Persönlichkeiten, die miteinander in Konflikt gerieten, sich aber noch öfter ignorierten. In Joachims Kopf wusste die rechte Hirnhälfte nicht, was die linke tat ...
    Jeanne stand reglos in einem Lichtfleck. Sie hatte das Gefühl, in ihren viel zu weiten Kleidern zu schweben. Sie hatte keine Angst. Noch immer nicht. Die Faszination verdrängte jede andere Empfindung. Sie beobachtete Antoine Féraud, der ein gerahmtes Foto nach dem anderen in die Hand nahm, betrachtete und wieder abstellte. In diesem Moment glich er aufs Haar dem verführerischen jungen Mann, dem sie an einem Juniabend durch die Ausstellung im Grand Palais gefolgt war.
    »Erzähl mir deine Geschichte«, forderte sie ihn auf.
    Er wandte sich zu ihr um. Sein Gesicht veränderte sich. Es wurde hohlwangig und zerfurcht. Auf einen Schlag wirkte er um vierzig Jahre gealtert. Er war Alfonso Palin, der blutrünstige Admiral im Ruhestand.
    »Was bieten Sie mir im Gegenzug?«, fragte er auf Spanisch.
    »Mein Leben.«
    Alfonso Palin lächelte. Sein Gesicht veränderte sich abermals. Die Sanftmut und Jugendlichkeit, die eben erst verschwunden waren, traten erneut hervor. Er war wieder Antoine Féraud.
    »Sie bieten das an, was wir bereits besitzen.«
    Nein. Nicht Féraud. Seine Stimme strafte sein Aussehen Lügen. Joachim Palin, der Anwalt aus Buenos Aires, der sich für humanitäre Organisationen engagierte.
    Jeanne blieb beim »Du«:
    »Dann betrachte es als eine letzte Gunst. Die Zigarette des zum Tode Verurteilten.«
    Der Mann lächelte. Und kehrte zurück zu der Vertraulichkeit von Antoine Féraud. Diese Veränderungen der Stimme, des Gesichtsausdrucks und der Identität waren faszinierend. Ein Lebewesen, das genetisch nicht endgültig festgelegt war ...
    »Du hat Recht. Wir haben dich schließlich hierhergebracht, um dir die Wahrheit zu offenbaren. Die ganze Wahrheit. «
    Der Psychiater setzte sich an den Tisch. Im Verlauf seiner Ausführungen veränderten sich seine Stimme, sein Gesicht, seine Sprechweise und seine Ansichten. Angespannte Miene bei dem Arzt. Strahlendes Lächeln bei dem Anwalt. Aschfahles Gesicht bei Alfonso Palin. Und auch, manchmal, das affenähnliche Gesicht des Wolfskindes. Eine grauenhafte Fratze: verformt wie von einem Angelhaken, der das ganze Gesicht nach einer Seite gezogen hätte. Seine Darlegungen wurden immer unzusammenhängender. Die Symptome des Autismus zeigten sich in aller Deutlichkeit.
    Dann änderte sich sein Gesichtsausdruck abermals, und er sprach wieder vollkommen logisch.
    Jeanne stellte sich vor, wie Antoine Féraud abends in seiner Praxis seine Persönlichkeiten freisetzte, jede Rolle spielte, wobei sich die verschiedenen Identitäten in verzerrter Form gegenseitig spiegelten. Echte kathartische Sitzungen. An einem Juniabend hatte sie eine dieser Sitzungen aufgezeichnet ...
    Férauds Geständnis brachte für Jeanne nichts Neues. Sie kannte alle Episoden – und hegte den Verdacht, dass er wieder log. Sich an die Version hielt, die sie beide im Rahmen der Nachforschungen geduldig erarbeitet hatten. Es gab noch immer Schattenzonen in der Geschichte, die der Schizophrene erzählte.
    Als unbeirrbare Ermittlungsrichterin konzentrierte sie sich auf ihren Fall. Die Fragen, die sie sich nach dem Tod von François Taine gestellt hatte.
    »Weshalb die Morde in Paris?«, stieß sie hervor.
    Die heisere Stimme des Vaters antwortete auf Französisch, mit einem starken Akzent:
    »Ein bloßes Zusammentreffen von Ereignissen. Unser Volk war bedroht.«
    »Nelly Barjac und Francesca Tercia stellten eine Gefahr für euer Geheimnis dar. Aber Marion
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