Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie
Autoren: Jean-Christophe Grange
Vom Netzwerk:
wieder. Ein Ökosystem, das im Entstehen war, noch eingetaucht in sein Fruchtwasser.
    Sie glitten in die pflanzlichen Gewölbe hinein. Die kleinen Seitenarme drangen ins grüne Dickicht wie die Zähne eines Kammes ins Haar. Der Dunst schien sich zu verdichten. Jeanne betrachtete schweigend den Ufersaum, die aus dem Wasser ragenden Wurzeln, den schmierigen Morast, der an feuchte Lippen erinnerte. Es roch nach Fisch, nach fauligem Schlick und vermoderter Borke.
    Unerklärlicherweise spürte sie die Gegenwart der »Ungeborenen«. Sie hatten sich hier, tief in diesem unzugänglichen Labyrinth, verschanzt, hinter dem Dunst, der einem riesigen Wundverband aus Gaze glich. In diesem Augenblick hallten Schreie wider, die wie ein Echo ihrer Gedanken waren. Heisere Schreie, die Jeanne sogleich wiedererkannte. Die Brüllaffen. Die caráyas. Ihre Schreie vermischten sich, antworteten sich, rivalisierten miteinander – ein ohrenbetäubendes Konzert.
    Jeanne warf Féraud einen Blick zu. Sie verstanden sich. Sie hatten das Territorium der Menschen von Thanatos erreicht.
    Die Affen waren ihre Wachposten.
    Ihr Alarmsystem.

 
    83
    »Mist!«
    Jeanne riss sich zusammen, um sich nicht in den Nacken zu schlagen. Man durfte niemals einen Blutegel zerdrücken: Seine Mundwerkzeuge blieben dann im Gewebe stecken und entzündeten sich. Seit drei Stunden marschierten sie über den Pfad, und diese Plagegeister, angelockt von dem Blutgeruch, ließen sich von den Bäumen fallen, unter denen sie hindurchgingen. Sie bohrten sich durch die Haut wie Haken und saugten sich mit Blut voll, worauf sie sich zu Boden fallen ließen.
    Jeanne löste das Tier vorsichtig ab. Dann hieb sie mit der Machete darauf ein. Die Bruchstücke lebten noch immer und wanden sich im Schlamm. Sie trat sie mit den Absätzen hinein.
    Schweigend setzte sie ihren Marsch fort. Féraud folgte ihr. Immer noch mit unbewegter Miene hinter seiner schwarzen Brille. Jeanne begann sich zu fragen, ob er gleichzeitig mit dem Gesichtssinn vielleicht auch den Verstand verlor ...
    Die erste Nacht hatten sie in Gesellschaft des Gauchos am Anfang des Weges verbracht. Keine besonderen Vorkommnisse. Seit Tagesanbruch folgten sie jetzt einem schmalen Trampelpfad, der von Blättern und Baumfarnen überwuchert war. Hin und wieder stießen sie auf Oasen. Langgestreckte Felder mit krautigen Gewächsen, die halb unter Wasser standen. Dann kehrte der Dschungel zurück. Gewaltig und intim zugleich. Gesättigt mit Leben und Fäulnis ...
    Jeanne marschierte mit geballten Fäusten, ihr Rücken krümmte sich unter dem Gepäck. Fernando hatte sich großzügig gezeigt: ein Zelt, Erste-Hilfe-Ausrüstung, Stiefel, Kleidung zum Wechseln, Messer, Macheten, Gaskocher ... Trotzdem fühlte sie sich leicht. Unbesiegbar.
    Grünes Laubwerk. Rote Erde. Schwarze Pfützen. Über ihrem Kopf ahnte sie die hohen Wipfel riesiger Bäume. Die Stämme waren die Säulen eines schwindelerregenden Ökosystems. Das Kronendach war sein Himmel ... Aber in ihrem Innersten war da noch ein anderes Gefühl: als durchquere sie einen Organismus. Ein komplexes Netz von Interessen, Allianzen und Rivalitäten. Die Sträucher schöpften ihr Leben aus abgestorbenen Bäumen, die zu ihren Füßen vermoderten. Blumen sprossen aus dem Humus verfaulter Früchte. Epiphyten ernährten sich von dem Wasser, das die Lianen enthielten, die ihrerseits die Rinde der Bäume aussaugten ...
    Je weiter sie vordrangen, umso mehr Hindernisse mussten sie überwinden. Schier undurchdringliches Dickicht. Vorhänge aus Lianen. Über den Boden kriechende Wurzeln. Termitenhügel ... Ab und zu blaugrüne, lauwarme Flüsse. Dann wieder kühlere, klare Sturzbäche. Oder aber scharlachrote Schlammlöcher, in denen Jeanne und Féraud bis zur Hüfte einsanken.
    Die Dunkelheit brach herein. Laut Fernando war es auf dem Trampelpfad ein Tagesmarsch bis zur Estancia von Alfonso Palin. Wenn sie sich nicht verlaufen hatten, befanden sie sich also ganz in der Nähe des Schlupfwinkels des Zentauren. Sie machten auf einer Lichtung halt.
    Sie bauten das Zelt auf und entrollten ihre Schlafsäcke. Ihre durchnässte Kleidung breiteten sie auf den Büschen ringsherum aus. Trügerische Hoffnung. Bei einer Luftfeuchtigkeit von fast hundert Prozent konnte hier nichts trocknen. Aus den Rucksäcken, die ihnen Fernando überlassen hatte, zogen sie frische Kleider heraus. Alle khakifarben. Jeanne nahm einen kleinen Kanister und zog mit Benzin einen Kreis um das Lager, um Ameisen und Skorpione
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher