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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie
Autoren: Jean-Christophe Grange
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... Aber der gesamte Komplex wirkte bedrückend. Alles, was nicht grün war, war grau. Alles, was nicht Schlamm war, war Staub. Das ganze Gelände erinnerte an eine klaffende Wunde, die in das Fleisch des Waldes geschnitten worden war. Eine Wunde, die nur darauf wartete, zu vernarben – damit die ursprüngliche Üppigkeit zurückkehrte.
    »Gut geschlafen?«
    Jeanne wandte sich nach rechts, zur Veranda. Fernando saß mit dem Rücken zur Sonne hinter einem Campingtisch.
    »Kommen Sie einen Kaffee trinken.«
    Einige Minuten später setzte sie sich zu Tisch, während das Tageslicht alles überflutete. Jeder taubenetzte Grashalm, jeder Buschdorn schien von innen aufzuleuchten. Ein Lichtbad.
    Kaffee für sie.
    Mate für ihn.
    »Was genau suchen Sie?«
    Fernando hatte hier draußen jegliche diplomatische Behutsamkeit verlernt. Seine Direktheit gefiel Jeanne. Sie antwortete genauso unverblümt:
    »Ich suche einen Mörder.«
    »Wo?«
    »Im Wald der Manen.«
    »Dort gibt es viele. Gesetzlose, Räuber, Deserteure. Aber die sind alle tot.«
    »Sie leben das ganze Jahr hier?«
    »Mit einigen Gauchos, für die Pferde. Ich bin der Wächter der Unterwelt.«
    Sobald er verstummte, nippte er an seinem verchromten Becher.
    »Haben Sie von einem Volk gehört, das im Wald leben soll?«
    »In dieser Gegend spricht man von nichts anderem. Legenden.«
    Jeanne schlug die Augen nieder. Ihre Hände zitterten. Als wittere ihr Körper die drohende Gefahr, während ihr Geist sie noch ignorierte. Sie dachte an Pferde, die das Herannahen eines Gewitters bereits spüren, lange bevor sich äußere Anzeichen dafür zeigen. Ihr Körper war ihr animalischer Teil.
    »Erzählen Sie mir von diesen Legenden.«
    Fernando griff nach einer Thermoskanne, die auf dem Boden stand. Langsam gab er heißes Wasser in seinen Metallbecher. Hinter ihm ergoss sich das Licht bereits wie eine glühende Flüssigkeit über die Palmwipfel.
    »Diese Estancia ist der letzte Außenposten der menschlichen Zivilisation – dahinter erstreckt sich, über Hunderte von Kilometern, der Wald der Manen. Der Wald der Ungeborenen.«
    »Haben Sie etwas bemerkt, das auf die Anwesenheit einer ... anderen Zivilisation hindeutet?«
    »Ich, nein. Aber mein Vater, der auch schon hier arbeitete, erzählte mir öfter eine Geschichte. Als er sich eines Tages in die Lagune vorwagte, hat er etwas gesehen ... Stellen Sie sich die Szenerie vor. Gewässer, die sich nicht bewegen. Übermannshohe Schilfwälder. Gelände, das abdriftet, ohne dass man es bemerkt ... Der Morgen graut. Die aufgehende Sonne taucht die Landschaft in eine Art magischen Lichthof. Mein Vater – so hat er es erzählt – betritt das Land der Träume. Plötzlich entdeckt er eine Lichtung. Da spürt er etwas hinter sich. Er dreht sich um und sieht im Gegenlicht eine Gestalt. Riesig. Haare in den Augen. Vielleicht auch Hautfalten. Oder Narben ... Mein Vater erzählte seine Geschichte immer anders. Manchmal hatte der Eindringling eine zerfressene Nase, als hätte er an Syphilis gelitten. Ein andermal hatte er spitze Zähne. Jedes Mal, wenn er von der Kreatur erzählte, hatte sie ein anderes Aussehen. Aber als er auf sie zuging, verschwand sie. Das ist alles, was ich über die Ungeborenen weiß.«
    Jeanne trank ihren Kaffee. Mechanisch nahm sie eines der braunen Brote, die sich auf dem Tisch stapelten. Sie biss hinein. Der bittere Geschmack erinnerte sie an das Vollkornbrot, das sie in Paris zum Frühstück aß. Unwirklich.
    Fernando lachte plötzlich auf, wobei seine schweren Schultern bebten.
    »Sie gehören aber nicht zu den Spinnern, die hier nach einer Art Yeti oder ich weiß nicht was suchen?«
    »Sind Sie vielen dieser Spinner begegnet?«
    »In letzter Zeit mindestens zwei.«
    »Niels Agosto und Jorge de Almeida. Der Erste kam aus Nicaragua. Der Zweite aus Tucumán.«
    »Sie sind gut informiert. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist.«
    Jeanne war schon schweißgebadet. Die Zikaden zirpten ringsherum. Das Geräusch erinnerte sie an eine Klinge, die knirschend über eine Glasscheibe gezogen wird.
    »Wie komme ich zur Lagune?«
    »Das ist Selbstmord.«
    »Wie komme ich dorthin?«
    Der Mann lächelte.
    »Hat wohl keinen Sinn, es Ihnen ausreden zu wollen?«
    »Nein.«
    »Hab ich mir schon gedacht.«
    Fernando griff in die Innentasche seiner Jacke, die an der Rückenlehne seines Stuhls hing, und zog eine mit Filzstift gemalte Skizze heraus, die er auf dem Tisch ausbreitete. Die Karte des Waldes der Manen.
    »Es gibt nur einen
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