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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie
Autoren: Jean-Christophe Grange
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– bekannten – Weg, um dorthin zu gelangen«, begann er. »Man muss geradewegs nach Norden fahren, hier, durch die Lagune.«
    »Mit dem Boot?«
    »Ja, mit dem Boot. Einer meiner Gauchos kann Sie dorthin bringen. Dann gibt es eine Piste. Die Ranger benutzen diesen Weg, wenn sie dort eine Bestandsaufnahme der Tierarten machen. Sie marschieren einen Tag lang in diese Richtung. Dann kommen Sie nicht weiter. Ein weiterer Tag für den Rückweg. Ende der Reise.«
    »Wird Ihr Mann mich begleiten?«
    »Er wird keinen Fuß in den Wald setzen, comprende usted ? Ich kann ihn höchstens übermorgen am Spätnachmittag ein weiteres Mal losschicken, damit er Sie am Ausgangpunkt des Pfades abholt. Sie marschieren einen Tag lang, um die Atmosphäre in sich aufzunehmen. Dann kehren Sie zurück. Wenn Sie von diesem Plan abweichen, wenn Sie sich auf dem Weg weiter vorwagen, kann niemand mehr etwas für Sie tun.«
    Jeanne betrachtete die von Hand gezeichnete Karte. Flüsse durchzogen den Wald. Derjenige, der die Karte angefertigt hatte, um den Dschungel abzubilden, hatte Bäume skizziert. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass diese Zeichnungen den rätselhaften Zeichen ähnelten, die Joachim an den Wänden der Tatorte zurückgelassen hatte.
    »Wofür steht dieses Kreuz?«
    »Für die Estancia von Palin.«
    Sie zuckte zusammen.
    »Admiral Alfonso Palin?«
    »Kennen Sie ihn? Ihm gehört die Lagune.«
    Das war ein echter Schock. – Urplötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Wieso war ihr dieser Gedanke nicht früher gekommen? Diese unerforschte Zone. Dieses von der Außenwelt abgeschottete Volk. Dies alles stand unter dem Schutz Palins. Diese unzugängliche Welt gehörte dem Admiral.
    »Alfonso Palin hat während der Diktatur ein Vermögen gemacht«, erklärte Fernando. »Man weiß nicht genau, wie. Nach dem Falklandkrieg hat er sich hierher zurückgezogen und die Regierung dazu gebracht, ihm dieses Gebiet zu verkaufen. Wer sonst hätte ein Schlammloch gewollt, wo sich nichts anbauen lässt? Er hat ein Naturschutzgebiet daraus gemacht. Es heißt, dass Palin eine Menge Menschen auf dem Gewissen hat. Heute kümmert er sich um den Schutz von Bäumen und Krokodilen.«
    Alles fügte sich zu einem Bild. Alles machte Sinn. Jeanne begriff die wahren Motive des Marineoffiziers. Er hatte schlicht und ergreifend das Ökosystem, in dem sein Sohn aufgewachsen war, gekauft.
    »Alfonso Palin«, sagte sie mit tonloser Stimme, »lebt dort?«
    »Er kommt manchmal vorbei, das ist alles.«
    »Und auf welchem Weg?«
    »Mit seinem Privatflugzeug. Er hat in der Nähe seiner Villa eine Piste anlegen lassen.«
    »Hält er sich jetzt dort auf?«
    »Keine Ahnung. Ich habe sein Flugzeug schon seit Wochen nicht mehr gehört. Aber das bedeutet nichts. Alles hängt vom Wind ab.«
    »Wo ist seine Estancia? Ich meine die posada , wo er wohnt.«
    »In der Nähe des Weges, von dem ich Ihnen erzählt habe. Am Ende dieses Pfades zweigt ein weiterer Weg rechts ab. Aber den bin ich nie gegangen. Man sollte diese Zone wirklich meiden. Der Mann ist gefährlich.«
    »Ich weiß.«
    Fernando lächelte.
    »Haben Sie alte Rechnungen zu begleichen?«
    Jeanne antwortete nicht. Fernando hielt sie gewiss für die Tochter eines desaparecido . Ein von den Schergen der Diktatur gestohlenes Kind, das gekommen war, um sich zu rächen.
    »Sie brechen in zwei Stunden auf«, sagte er im Aufstehen. »Ich werde veranlassen, dass man die lancha für Sie bereitmacht und Sie mit allem ausrüstet, was Sie zum Übernachten im Dschungel brauchen.«
    Jeanne erhob sich ebenfalls.
    »Darf ich Sie um eine Gefälligkeit bitten?«
    »Ich dachte, das wär's gewesen.«
    »Könnten Sie meinen Freund Antoine Féraud während meiner Abwesenheit bei sich beherbergen?«
    »Wollen Sie allein aufbrechen?«
    »Ohne ihn bin ich stärker.«
    Fernando brach wieder in sein ordinäres Gelächter aus und griff sich in den Schritt.
    » Gringa , entschuldigen Sie den Ausdruck, aber Sie haben wirklich ...«
    »Abgemacht?«
    Schritte auf der Veranda hinderten ihn daran, zu antworten.
    »Ich bin bereit.«
    Jeanne drehte sich um und erblickte Féraud, der wie ein Forschungsreisender gekleidet war, die Augen hinter einer schwarzen Brille verborgen.
    »Meine Augen sind geheilt«, erklärte er, um entsprechenden Einwänden zuvorzukommen. »Oder doch so gut wie. Jedenfalls kann ich mitkommen.«
    Sie sagte nichts. Ihr Schweigen konnte als Einverständnis gedeutet werden.
    »Essen Sie!«, forderte Fernando den
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