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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie
Autoren: Jean-Christophe Grange
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ganze Absurdität ihrer Lage bewusst. Sie waren allein. Sie hatten keine Ausrüstung, keine Karte und keinen Führer mehr. Verloren in der Wildnis, Hunderte von Kilometern von den nächsten Außenposten der Zivilisation entfernt, hatten sie nicht die geringste Ahnung, wohin sie gehen sollten. Ihre Reisetasche enthielt nur ihren Macintosh, ihre Ermittlungsakten, ihr Totem y Tabú. Féraud zog seinen Rollkoffer durch den Schlamm hinter sich her. Vollkommen lächerlich.
    »Jeanne.«
    Sie drehte sich um: Ihr Gefährte war stehen geblieben.
    »Ich sehe nichts mehr.«
    »Ich auch nicht.«
    »Nein. Wirklich ...«
    Sie kehrte um. Der Psychiater klammerte sich an seinen Koffer. Sie näherte sich seinem Gesicht – sie war genauso groß wie er. Selbst in der Dunkelheit konnte sie sehen, dass das Weiße in seinen Augen blutunterlaufen war. Ein dünner roter Schleier auf seiner Hornhaut.
    »Wie lange hast du das schon?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Tut es weh?«
    »Nein. Aber ich sehe immer schlechter.«
    Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Jeanne legte den linken Arm Férauds auf ihre Schulter und griff mit ihrer linken Hand nach dem Koffer. Die beiden machten sich wieder auf den Weg, wie zwei Kriegsversehrte, die sich gegenseitig stützten. Ihr kam eine Idee: Die entzündeten Augen von Féraud waren ein idealer Vorwand, um ihn in der Estancia zurückzulassen.
    Sie würde sich allein in den Wald der Manen begeben.
    Die beiden marschierten fast eine halbe Stunde. Das Surren des Generators wurde immer lauter. Der Wald, wie aufgestört in seiner Selbstversunkenheit, erwachte. Schrie. Knackte. Schäumte. Oder aber Jeanne war im Begriff, ihren Verstand zu verlieren. Sie dachte nur noch daran, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ihr war, als wandle sie durch einen Märchenwald, in dem aber alles lebte ...
    Schließlich zeichneten sich die Konturen des Anwesens deutlich ab. Eine Art Fußballplatz, umgürtet von den Ausläufern des Dschungels. Das sich darüber wölbende Himmelszelt funkelte lebendiger, heller als die Lichter auf der Erde. Am hinteren Rand der Lichtung entdeckte Jeanne flache Gebäude mit Blechdächern. Koppeln, Scheunen, Silos. Sie waren da.
    Pferde wieherten. Hunde bellten. Jeanne blieb nicht stehen; noch immer stützte sie Féraud. Sie war zu erschöpft, um Angst zu haben. Lärm unter der Veranda des Hauptgebäudes – zweifellos die posada , das Gästehaus. Die Gestalt eines Mannes tauchte auf.
    Das Ladegeräusch eines Gewehres, dann eine heisere Stimme:
    »Quién es?«
    Einige Minuten später erntete Jeanne ein schallendes Gelächter, so brutal wie eine Dynamit-Explosion. Sie hatte dem Verwalter gerade ihre Situation erklärt. Schließlich musste auch sie lachen, und Féraud stimmte ein. Tatsächlich war es komisch ... Dabei hatte sie nicht einmal gewagt, das eigentliche Ziel ihrer Reise zu erwähnen, aus Angst, eine neue Lachsalve auszulösen.
    Der vierschrötige Mann bat sie herein. Er hatte einen riesigen, schwarzen Kopf. Seine dunkle Haut war rissig. Jeanne dachte an argentinische Büffel, die sich im Schlamm wälzten, um sich vor Insekten zu schützen.
    Der Mann hieß Fernando und kümmerte sich um das Anwesen und die Herden. Er arbeitete für einen ökologisch engagierten jungen Katalanen, der mit dem Internet ein Vermögen gemacht hatte. Als er seinen Alltag schilderte, musste Jeanne an einen Leuchtturmwärter denken. Und genau das war er auch. Wieder sah sie die auseinandergefaltete Karte in Formosa vor sich. Die Estancia war der letzte Außenposten vor dem grünen Ozean ...
    Fernando bot ihnen die Reste seines Abendessens an – einige Fleischstücke lagen noch auf dem Grill. Sie lehnten das Angebot ab. Er zeigte ihnen, wo sie schlafen konnten. Anschließend erbot er sich, Férauds Augen zu verarzten.
    Jeanne ließ die beiden allein und schloss sich in ihr Zimmer ein. Vier kalkgetünchte Wände. Ein Eisenbett. Ein Kruzifix. Genau das, was sie brauchte. Sie ließ sich in ihr Bett sinken, ohne sich auszuziehen.
    Sogleich fielen ihr die Augen zu.
    Sie waren wie ein Vorhang, der sich über die Welt herabsenkte.
    Es sei denn, es war umgekehrt.
    Dass das Schauspiel nun erst begann.

 
    81
    Sieben Uhr morgens.
    Jeanne öffnete die Fensterläden. Ihr Fenster ging auf die Lichtung, deren Saum im Schatten der Palmen lag. Die Augen mit der Hand abschirmend, ließ sie ihren Blick über die Umgebung streifen. Mit seinen landwirtschaftlichen Gebäuden, seinen Koppeln und seinem Hühnerhof hatte der Ort etwas Vertrautes
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