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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden
Autoren: Steffanie Burow
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aber das können wir regeln, wenn es so weit ist.« Anna hätte genauso gut gegen eine Wand sprechen können. Ihr Vater sah sie nur ausdruckslos an und zeigte kein Zeichen des Verstehens. Auf einem Teller vor ihm lagen belegte Brote, die Anna geschmiert hatte, als sie direkt nach der Arbeit hergekommen war. Erleichtert stellte sie fest, dass er ein paarmal abgebissen hatte. Es reichte eigentlich nicht, um einen erwachsenen Mann am Leben zu erhalten, aber immerhin.
    »Iss noch etwas. Du musst doch Hunger haben.«
    Eddo nahm ein Brot und begann mechanisch zu kauen. Anna blieb neben ihm sitzen, bis er die Scheibe ganz aufgegessen hatte, dann erhob sie sich.
    »Ruf mich an, wenn du etwas brauchst.«
    Langsam ging sie zur Wohnzimmertür. Wie jeden Abend hoffte sie, dass ihr Vater noch etwas zu ihr sagte, irgendetwas, aber wie jeden Abend blieb er stumm. Es schnürte ihr die Kehle zu, ihn dort hocken zu lassen. Sie wusste, dass er auf dem Sofa übernachten würde. Er hatte das Schlafzimmer mit dem großen Ehebett seit sieben Monaten nicht mehr betreten. Und er war seit sieben Monaten krankgeschrieben, eine Tatsache, die Anna seinem Arzt nicht verzieh. Der machte es sich leicht: Anstatt ihren Vater zur Kur zu schicken oder aber ihn zu zwingen, aus seiner Starre aufzuwachen, stellte er nur Krankschreibungen aus, Woche für Woche.
    Leise zog sie die Haustür ihres Elternhauses hinter sich zu und ging zu ihrem Auto. Auf der Heimfahrt kreisten ihre Gedanken um das Thema, das ihr seit mindestens einem Vierteljahr keine Ruhe ließ: Ihr Vater brauchte Betreuung. Aber wie sollte sie das regeln? Timo studierte in Hamburg und dachte nicht daran, nach Lüneburg zurückzukehren. Er argumentierte, dass Anna zu ihrem Vater ziehen konnte, ihre kleine Mietwohnung in der Lüneburger Altstadt sei sowieso zu teuer. Ihr Bruder hatte recht. Warum sollte er pendeln, wenn sie ohnehin vor Ort war? Aber Anna wusste, dass sie es nicht konnte. Die abendlichen Besuche bei ihrem Vater hatten ihre Kräfte beinahe aufgezehrt, und sie stand selbst kurz vor einem Zusammenbruch. Im Büro hatte sie sich in letzter Zeit häufig bei Schlampereien ertappt, zum Glück rechtzeitig genug, um Schlimmeres zu verhindern, aber bald würde es so weit sein, dass sie einen Fehler übersah. Und dann würde ihre mühsam aufrechterhaltene Fassade endgültig einstürzen, und sie konnte sich gleich neben ihren Vater auf die Couch setzen. Was für eine jämmerliche Vorstellung: Der große, massige, strohblonde Eddo und seine zierliche, dunkelhaarige Tochter setzten gemeinsam Staub an. Anna hieb hilflos auf das Lenkrad ein und trat dann mit voller Wucht auf die Bremse. Beinahe hätte sie eine rote Ampel sowie eine in ihre Richtung schimpfende ältere Dame überfahren. Anna hielt erschrocken den Atem an und ließ ihn dann langsam entweichen. Das Adrenalin schwappte auch drei Kreuzungen weiter noch durch ihren Körper, und ihre Gedanken rasten. Couch? Vielleicht war das die Lösung – eine Psychiatercouch. Sie musste dringend mit Timo darüber sprechen.
    Als sie endlich einen Parkplatz gefunden und den kurzen Weg zu ihrer Wohnung hinter sich gebracht hatte, schloss sie erleichtert die Wohnungstür auf und drückte auf den Lichtschalter. Weiches Licht, gedämpft durch eine hellgrüne Glaslampe, durchflutete die Diele, und sofort fiel ein Teil der Last ab, die sie Tag für Tag niederdrückte.
    Nein, sie würde diese Wohnung nicht aufgeben. Hier war ihr Zuhause, ein Platz, den sie sich selbst gesucht und über Jahre liebevoll eingerichtet hatte. Hier fand sie Zuflucht vor den über ihr zusammenschlagenden Problemen.
    Während sie sich das Abendessen zubereitete, wurde sie allmählich ruhiger. Sie kochte gern und gut – ihre sparsamen Handgriffe verrieten die geübte Köchin. Früher hatte sie häufig Freunde eingeladen und mit raffinierten Gerichten überrascht – nichts Exotisches, das mochte sie nicht, sondern von der italienischen, französischen oder deutschen Küche beeinflusste Eigenkreationen. Genau mit der Prise Fremdheit, die ihr gerade noch schmeckte. Die Freunde kamen schon lange nicht mehr: Bärbels Tod hatte mehr als eine Lücke gerissen. Anna wusste, dass sie keine brillante Gesellschafterin war, sie galt als schüchtern und hörte lieber zu, als selbst das Wort zu ergreifen. Aber in den letzten Monaten hatte sie sich endgültig in einen blassen Trauerkloß verwandelt. Nicht dass ihre Freunde sie mieden, im Gegenteil, in der ersten Zeit hatten sie regelmäßig
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