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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden
Autoren: Steffanie Burow
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angerufen, sich nach ihrem Befinden erkundigt und sie ins Kino oder in die Kneipe eingeladen, aber da Anna jedes Mal abgewunken hatte, waren die Anrufe immer seltener geworden. Lediglich ihre beste Freundin Rebecca schneite regelmäßig herein, ohne sich um Annas wenig plausible Ausreden zu scheren.
    Anna wischte resigniert ein paar Fettspritzer von den Kacheln. Einerseits sehnte sie sich nach ihren Freunden, nach ihren Geschichten und dem gemeinsamen Lachen, andererseits war sie dazu viel zu müde. Todmüde, um genau zu sein.
    In der selbstgewählten Stille aß sie ihr Abendessen, teilte das Schnitzelfleisch penibel in gleich große Stücke, spießte den Kohlrabi Stück für Stück auf und stellte plötzlich fest, dass sie unsichtbar geworden war. Einfach unsichtbar. Ihr Vater bemerkte sie nicht, ihre Freunde lebten ohne sie weiter, und im Finanzamt war sie, ob es ihr passte oder nicht, von heute auf morgen ersetzbar. Sie war einunddreißig Jahre alt, unverheiratet, hatte auch keinen Partner, und nicht einmal ihr Bruder rief an. Wer sollte da nicht verzweifeln?
    Sie stand auf, kippte die Reste des Essens in den Mülleimer, wusch ab und setzte sich dann wieder an den Küchentisch. Es gab noch etwas zu tun, bevor sie ins Bett ging und sich mit dem Fernsehprogramm betäubte: die Briefe. Sie hatte sie bisher geflissentlich ignoriert, doch nun wollte sie nicht mehr ausweichen. Sie hatte sich entschieden, diese Briefe zu lesen. Welche Geister auch immer sie damit rief.
     
    Es waren fünf. Zerlesen, fleckig, abgeliebt. Bevor Anna die Briefe öffnete, stellte sie anhand der Poststempel eine zeitliche Reihenfolge her. Die ersten beiden waren Luftpostbriefe aus Indien, abgeschickt 1970 von jener Laksmi an die Adresse in Foelkenorth. Es folgte ein Brief von Laksmi aus dem Jahr 1973, diesmal aber mit einem Stempel aus Aurich und an die Adresse der Wohnung in Lüneburg gesandt, in der Anna und ihre Eltern vor Timos Geburt und dem Umzug in das Reihenhaus gewohnt hatten. Und dann, kurz hintereinander, zwei weitere Luftpostbriefe von einer gewissen Ingrid Doggenfuss. Die Stempel waren leider unleserlich, und auf keinem der fünf Briefe fand sich eine Absenderadresse, stattdessen stand dort »von deiner besten Freundin Laksmi«, und dann »von deiner besten Freundin Ingrid«, und auf dem letzten Briefumschlag »von deiner Freundin Ingrid Doggenfuss«. Zu dem Zeitpunkt – der Brief stammte aus dem Jahr 1975 – hatte sich die Sache mit der besten Freundin offenbar erledigt. Anna ging davon aus, dass es sich bei Laksmi und Ingrid um ein und dieselbe Person handelte, denn die Schrift ähnelte sich sehr. Über jedem »i« in den Namen Laksmi und Ingrid schwebte ein winziger Schmetterling anstelle eines Punktes.
    Anna war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sie den Inhalt der Briefe erfahren wollte. Sie lagen vor ihr wie eine stumme Versuchung, nein, wie eine stumme Drohung, und die Gänsehaut auf ihren Armen hatte mit Sicherheit nichts mit der Temperatur in der Küche zu tun. Um etwas Aufschub herauszuschinden, stand sie auf, holte eine Flasche Médoc aus der Kammer und entkorkte sie. Normalerweise trank sie in der Woche keinen Alkohol, und auch am Wochenende waren es selten mehr als zwei Gläser Wein am Abend, doch sie hatte das Gefühl, die Situation mit Rotwein eher meistern zu können. Sie griff den ersten Umschlag aus Indien, zog entschlossen den Brief heraus, faltete ihn auseinander und las die engbeschriebenen Blätter.
    Kaum hatte sie den ersten Brief beendet, warf sie ihn auf den Tisch und schnappte sich den zweiten, dann den dritten, vierten und fünften. Hastig überflog sie die Seiten und lehnte sich schließlich erschöpft zurück. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihre anfängliche Verwirrung hatte sich in Bestürzung verwandelt.
     
    »Endlich erreiche ich dich!«, rief Anna in den Hörer. »Wo warst du gestern Abend?«
    »Hallo, Schwesterherz.« Timo klang verschlafen. Kein Wunder, es war acht Uhr am Morgen, keine gute Zeit, einen Studenten aus dem Bett zu reißen. »Was willst du?«
    Anna hörte ihn gähnen.
    »Ich brauche dich«, antwortete sie und brach in Tränen aus. Es dauerte einen Moment, bis sie wieder sprechen konnte. In abgehackten Sätzen versuchte sie ihm von ihrer Entdeckung zu berichten.
    Timo, jetzt hellwach, unterbrach sie: »Beruhige dich! Worum geht es? Ich kapiere überhaupt nichts.«
    »Ich doch auch nicht.« Anna schniefte lautstark.
    »Also noch einmal von vorn«, sagte Timo ungehalten. Geduld
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