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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden
Autoren: Steffanie Burow
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gegangen war, und alarmierte die Wasserschutzpolizei, die daraufhin mit einem Hubschrauber das Meer abgesucht hatte. Vergeblich. Bärbels Leiche trieb erst zwei Tage später an den Strand, und Eddo wurde gebeten, sie zu identifizieren. Er hatte sich nie von dem Schock erholt, und Anna konnte es sich nicht verzeihen, dass sie zu derselben Zeit, als ihr Vater die fürchterlichsten Stunden seines Lebens durchlitt, unerreichbar gewesen war. Sie hatte sich mit ihrem neuen Freund auf einer Kurzreise in Frankreich befunden und das Handy ausgeschaltet. Nichts sollte ihr frisches Glück stören. Nun, das Glück zerbrach kurz darauf, der Mann suchte sich eine hübschere, schlauere, herzeigbarere Freundin, ihre Mutter war tot, und ihr Vater glich mehr und mehr einer Aufziehfigur mit defekter Mechanik. Das Leben konnte einem ganz schön übel mitspielen.
    Anna riss sich zusammen. Sie blätterte weiter und fand tatsächlich den gesuchten Sparbrief. Erleichtert zog sie die Papiere aus der Hülle und legte sie beiseite. Es war seltsam, dass ihre Mutter das Dokument nicht in dem Ordner abgeheftet hatte, in dem Eddo alle wichtigen Sachen aufbewahrte. Anna hatte nie den Eindruck gehabt, ihre Eltern hätten Geheimnisse voreinander, andererseits schien ihre Mutter ebenso eisern wie heimlich gespart zu haben, denn die in dem Brief festgelegte Summe belief sich auf immerhin beinahe zwölftausend D-Mark. Dann fielen Anna ihre verstorbenen Großeltern ein. Vielleicht hatten sie ihrer Tochter das Geld vererbt. Im Grunde ist es gleichgültig, Hauptsache, ich habe die Unterlagen, dachte Anna, während sie eilig das Sammelsurium an Erinnerungsstücken wieder in die Schubladen stopfte. Für heute reichte ihr die Konfrontation mit den kümmerlichen Überresten eines erloschenen Lebens.
    Als sie den Schnellhefter zurücklegen wollte, segelte ihr ein Brief entgegen, der wohl aus einer Hülle gerutscht war. Anna hob ihn auf, und ihr Blick fiel auf den Absender.
    »Von deiner besten Freundin Laksmi« stand dort in einer sorgfältigen Frauenhandschrift.
    Laksmi? Was war das für ein Name? Und außerdem »beste Freundin« Laksmi? Anna schüttelte unbewusst den Kopf. Ihre Mutter hatte nie von einer Laksmi erzählt. Sie drehte den Brief um. Ein Luftpostbrief, adressiert an Bärbel. Der Ort, an den der Brief gesendet worden war, sagte Anna nichts. Von einem Dorf oder einer Stadt namens Foelkenorth hatte sie nie gehört.
    Anna hielt den Umschlag dichter vors Gesicht. Auf den exotischen dunkelgrünen Briefmarken prangte das Bild einer Frauenstatue, vielleicht die Abbildung einer Göttin. Der verwischte Poststempel überdeckte die unteren Hälften der Marken, aber als sie jetzt genauer hinsah, konnte sie das Wort »India« erkennen.
    Unentschlossen strich Anna den zerknitterten Umschlag auf ihrem Oberschenkel glatt. Sollte sie den Brief lesen oder den Inhalt auf sich beruhen lassen? Sie hatte eigentlich genug zu verarbeiten und musste nicht noch zusätzlich obskure Geister der Vergangenheit heraufbeschwören, mit denen ihre Mutter sie sicherlich aus gutem Grund nicht belastet hatte. Anna war eine vernünftige junge Frau und schlug die Mappe auf, um den Brief wieder in die Hülle zurückzustecken.
    Darin entdeckte sie weitere Briefe.
     
    Das Knistern der Briefe in ihrer Jackentasche erfüllte das Wohnzimmer, als Anna zu ihrem Vater trat, um sich zu verabschieden – zumindest kam es Anna so vor. Das unangenehme Gefühl beschlich sie, etwas Verbotenes zu tun, und darin hatte sie wenig Übung. Warum erzählte sie ihrem Vater nicht einfach von den Briefen? Es lag nahe, dass Eddo davon wusste und ihr die Entscheidung abnehmen konnte, sie zu lesen oder nicht. Anna ließ sich neben ihrem Vater aufs Sofa plumpsen. Genau das war der Punkt: Sie wollte sich die Entscheidung nicht abnehmen lassen. Der Tod ihrer Mutter hatte sie de facto zum Familienoberhaupt gemacht, sie füllte das von Eddo hinterlassene Vakuum, der den Platz geräumt hatte, um sich nur noch passiv seiner Trauer hinzugeben. Und wenn sie schon diesen ungeliebten Posten übernehmen musste, dann konnte sie ihre Entscheidungen auch allein treffen.
    »Ich gehe jetzt nach Hause, Papa«, sagte sie und berührte ihren Vater leicht am Arm.
    Er zuckte zurück. Anna spürte einen Stich. War es schon so weit gekommen, dass er die Berührung seiner eigenen Tochter nicht mehr ertrug?
    »Den Sparbrief habe ich gefunden und kümmere mich um die Abwicklung. Wahrscheinlich werde ich eine Vollmacht von dir benötigen,
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