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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden
Autoren: Steffanie Burow
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abzuwarten.
    Anna ließ sich aufs Sofa fallen. Ein Berg?, dachte sie. Ein Berg in Nepal?

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4
    V iele tausend Kilometer entfernt, auf einem Feld in dem winterbraunen Mittelgebirge Nepals, versuchte eine junge Frau, sich aus der Umklammerung ihres älteren Bruders zu befreien. Tara wehrte sich verzweifelt, doch Bahadur erwies sich als stärker und ließ nicht zu, dass sie zu dem auf der Mitte des Feldes stehenden Hubschrauber rannte.
    »Nein! Es darf nicht sein! Das ist Unrecht!«, schrie Tara. »Wie kannst du zulassen, dass er meine Schwester mitnimmt? Dass er all dieses Unglück über unsere Familie bringt?«
    Sie schleuderte die Worte ihrem Vater entgegen, der etwas abseits der Familie stand, mit leerem Blick und zusammengekniffenem Mund, doch ihr Ausbruch ging im Gebrüll des startenden Hubschraubers unter.
    Seine Rotorblätter drehten sich immer schneller. Der von ihnen entfachte Sturm riss Taras Mutter von den Beinen. Einen endlosen Augenblick lang mühte sich Biraj, Taras zweitältester Bruder, damit ab, die Mutter aufzurichten, doch sie sackte immer wieder zu Boden. Biraj gab auf, den Blick voll Trauer und Hilflosigkeit. Taras Wut steigerte sich ins Unermessliche, dunkelrote, heiße Wut, die sie völlig ausfüllte. Mit einem Ruck riss sie sich von Bahadur los und stürzte auf den Hubschrauber zu. Vergeblich versuchte sie einen letzten Blick auf ihre Schwester zu erhaschen, doch hinter der Scheibe konnte sie nur den Piloten und den fürchterlichen Mann sehen. Ein höhnisches Lachen hatte sein Gesicht zu einer Fratze verzerrt, die mehr denn je an einen Bhoot erinnerte, einen teuflischen Dämon.
    Der Hubschrauber löste sich vom Boden und wirbelte die trockene, steinharte Krume des Feldes in alle Richtungen. Tara musste sich abwenden, um nicht im Gesicht verletzt zu werden. Die Erdklumpen trafen sie am ganzen Körper, doch sie spürte es kaum. Als sie sich wieder umdrehte, war der Hubschrauber unerreichbar in den stahlblauen Winterhimmel aufgestiegen. Beinahe glaubte sie, er hätte sich über die verbotenen Höhen des Annapurna-Massivs erhoben, dessen schneebedeckte Gipfel in weiter Ferne leuchteten.
    Doch jetzt drehte er ab, senkte sich in das Tal des Daraundi Khola und wurde mit unfassbarer Geschwindigkeit kleiner und kleiner. Tara grub ihre Fingernägel in die Handflächen, schrie ihren Schmerz und ihre Ohnmacht dem entschwindenden Ungeheuer aus Stahl hinterher. Dann brach sie weinend zusammen.
     
    Sie blieben auf dem Feld, bis nichts mehr an den Einbruch der Moderne in die archaische Welt der Berge erinnerte. Nach dem Aufruhr der letzten Stunden erschien Tara die Stille wie eine erstickende Decke, und sie schnappte nach Luft. Bahadur strich ihr über den Kopf, redete mit leiser, beruhigender Stimme auf sie ein, bis sie genug Kraft fand, aufzustehen. Er reichte ihr die Wollmütze, die der Wind ihr vom Kopf gerissen hatte. Dankbar stülpte sie die Mütze über ihr langes, tiefschwarzes Haar und zog sie bis über die Augen. Sie wollte nichts mehr sehen, nie mehr, wollte nichts von der Außenwelt wahrnehmen und sich ganz ihrem Kummer hingeben. Willenlos ließ sie sich von Bahadur den schmalen, die Terrassenfelder des Dorfes kreuzenden Pfad hinabführen. Sie hörte das Flüstern der anderen Dorfbewohner, als ihre kleine Prozession an den ärmlichen Häusern vorbeiging, aber sie verstand nichts und wollte auch nichts verstehen.
    Sie fragte sich, ob sie den Verlust ihrer Schwester jemals überwinden würde.

[home]
5
    Juni 2003
    E ndlich war es so trocken und warm, wie es sich für einen Junitag gehörte. Obwohl sich Anna Urlaub genommen hatte, stand sie früh auf und verließ nach einem hastigen Frühstück die Wohnung, um einige Dinge zu erledigen. Im Gartencenter kaufte sie eine Palette Blumen und fuhr dann weiter zum Friedhof. Als sie auf Bärbels Grab zuging, sah sie die Bescherung schon von weitem: Der Regen der letzten Wochen hatte das Unkraut in den Himmel wuchern lassen. Entschuldige meine Nachlässigkeit, Mami, sagte sie im Stillen.
    Eine Stunde später bedeckte ein leuchtender Blumenteppich das Grab. Direkt vor dem Stein hatte Anna Studentenblumen gepflanzt, für die ihre Mutter immer eine unerklärliche Vorliebe gehegt hatte. Anna fand die gelben und orangefarbenen Blütenpompons ebenfalls recht hübsch, aber auch ein bisschen armselig neben den prächtigen Fuchsien und Pelargonien, denen sie im Gartencenter nicht hatte widerstehen können. Studentenblumen eben.
    Anna erhob sich, rieb ihre Hände
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