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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden
Autoren: Steffanie Burow
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Tara und ihre Großmutter ihnen schon ein Dhal Bhat, Reis mit Linsen und ein wenig Gemüse, vorbereitet, über das sie hungrig wie die Schakale herfielen.
    Als sie zwölf Jahre alt war, ließ Tara endgültig die Welt der Kinder hinter sich und führte das Leben einer Erwachsenen. In diesem Jahr kam Dipak auf die Welt, und ihre ohnehin zarte Mutter hätte seine Geburt beinahe nicht überlebt. Auch danach kam sie nie wieder richtig auf die Beine. Es war Tara, die den kleinen Dipak umsorgte und die Aufgaben ihrer Ama auf den Feldern übernahm. Sie wollte nicht, dass ihre Geschwister die Schule abbrachen. Glücklicherweise bekam ihr ältester Bruder Bahadur bald darauf sein Abschlusszeugnis und stürzte sich ebenfalls mit Eifer in die Arbeit. Zu dritt – der Vater, Bahadur und Tara – gelang es ihnen, die Felder zu bestellen und das Vieh zu versorgen, um die große Familie vor dem Hunger zu bewahren, aber es war hart – und hart war es geblieben. Sie mochten sich noch so sehr anstrengen, dem Teufelskreis der Armut konnten sie nicht entfliehen. Insgeheim glaubte Tara, dass der Bhoot sie verflucht hatte, doch wenn sie etwas Dahingehendes erwähnte, verbot der Vater ihr den Mund. Er hatte Angst vor dem Bhoot, und diese Angst hatte sich auf alle Familienmitglieder übertragen. Der Schatten des grässlichen Mannes verdunkelte ihrer aller Leben.
    »Was hast du? Du siehst plötzlich ärgerlich aus. Habe ich etwas falsch gemacht?«
    »Nein, Bhai. Es ist alles gut.« Tara musste sich zusammenreißen, um ihre Angst und ihre Wut nicht hinauszuschreien. Bisher war es ihr gelungen, den Schatten von Dipak fernzuhalten und ihm eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen, und sie wünschte, sie könnte auch weiterhin ihre schützende Hand über ihn halten. Aber sie musste fort. Dipak war nicht der einzige Mensch, der ihre Hilfe benötigte.
    »Ich gehe jetzt aufs Feld«, sagte sie und erschrak im selben Moment über den schroffen Ton ihrer Worte. »Zieh deine Schuluniform aus.« Mit schnellen Schritten verließ sie den Hof und begann den mühsamen Aufstieg zu den Terrassenfeldern der Lamichhanes hoch oberhalb des Dorfes.
     
    Tara war schweißgebadet, als sie ihr Ziel erreichte. Sie stellte die Kiepe ab und reckte sich erleichtert. Buba setzte einige Terrassenstufen weiter oben den Reis um und hatte sie noch nicht bemerkt. Tara beobachtete ihn bei seinem Tun mit widerstreitenden Gefühlen. Sie wünschte, eines Tages zu verstehen, was in ihm vorging. Dipendu Lamichhane schuftete von morgens bis abends, um seine Familie zu versorgen, aber er war unerträglich schweigsam. Nie tadelte er, aber er lobte auch nicht. Manchmal fühlte Tara seinen Blick auf sich ruhen, doch er wandte sich jedes Mal ab, wenn sie ihn dabei ertappte. Ertappte? Wie konnte ein Vater dabei ertappt werden, wenn er seine Kinder ansah? Und doch wirkte es immer so, als hätte er ihnen gegenüber ein schlechtes Gewissen. Tara wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nun, er hatte allen Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben. Sie schämte sich für die unvermittelt aufwallende Verachtung, und doch schlich sich diese ganz und gar unangemessene Regung immer häufiger in ihr Herz, wenn sie an den Vater dachte. Er war so schwach! Als der Bhoot im Winter mit seiner schrecklichen Forderung gekommen war, hatte Buba ihn nicht zu den Teufeln gejagt, sondern nur den Rücken gekrümmt, bereit für den nächsten Schlag. Der Bhoot war befriedigt abgeflogen, mit ihrer Schwester als Preis, und der Vater hatte ihn ziehen lassen, wenn auch mit Tränen in den Augen. Später, nachdem der erste Schock abgeklungen war, hatte die Mutter auf ihren Ehemann eingeschrien, und auch Tara hatte alle wohlerzogene Zurückhaltung fahrenlassen, während sich der Vater in undurchdringliches Schweigen hüllte und in der Folge auch ihren Brüdern aus dem Weg ging.
    Bahadur und Biraj hatten schließlich auf die angespannte Situation in der Familie reagiert und waren den Lockrufen der maoistischen Rebellen mit ihren Versprechungen, eine neue, bessere Welt betreffend, gefolgt. So schmerzlich Tara sie auch vermisste, so stolz war sie auf ihre Brüder. Schließlich hatten die beiden den alles erstickenden Fatalismus abgestreift, der nicht nur die Lamichhanes, sondern auch all die anderen armen Bauernfamilien im Würgegriff von Hunger und Demütigung gefangen hielt. Sie hatten die Waffen erhoben, um für ein würdigeres Leben zu kämpfen. Trotzdem wünschte Tara sehnsüchtig wenigstens einen Bruder nach Hause
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