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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden
Autoren: Steffanie Burow
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wiederkäuten, uninteressiert an allem, was über ihren Kuhhorizont hinausging, und das Gras sattgrün war – wegen des Regens, dachte Anna fatalistisch. Nichts, aber auch gar nichts lenkte sie von der Tatsache ab, dass sie drauf und dran war, in der Vergangenheit ihrer Mutter herumzustochern.
    Zu allem Überfluss hatte sie sich verfahren und kurvte seit über einer Stunde auf den schmalen Straßen zwischen Altharlingersiel, Neuharlingersiel und Carolinensiel herum. Die Dörfer oder, besser gesagt, die Ansammlungen weniger Häuser, die sie passierte, hatten so abenteuerliche Namen wie Poggenburg oder Carolinengrodendeich oder Fetterstrich oder Bettenwarfen. Anna fragte sich, woher dieser Name wohl rührte. Hatten die hier tatsächlich mit Betten geworfen?
    Ein gelb-grünes Schild kündigte die Ortschaft Schwarzehörn an. Darunter konnte sie sich immerhin etwas vorstellen. Anna entdeckte einen Mann mittleren Alters, der trotz des Regens auf dem Hof seines Anwesens an einem Trecker herumschraubte, und trat kurzerhand auf die Bremse. Vielleicht konnte der Mann ihr weiterhelfen.
    Er konnte. Nach fünfzig Metern solle sie rechts abbiegen, sagte er, dann käme sie an Schiefe Grashaus vorbei und am Werdumer Altengroden. Er kratzte sich am Kopf. Also, nach dem Altengrodener Hof solle sie gleich nach links abbiegen. Dort stände ein Baum. Ziemlich hoch. Der Blitz hätte vor ein paar Jahren in ihn eingeschlagen. Bei dem Baum wieder rechts, und da sei es dann auch gleich.
    Anna bemerkte, wie er sie neugierig musterte.
    »Vielen Dank«, sagte sie. »Oder muss ich noch etwas wissen?«
    »Wollen Sie kaufen?«
    »Kaufen? Nein, wieso?«
    »Na, ich dachte nur«, brummte er. »Hat lange keiner mehr nach dem Foelkenorth gefragt.« Damit war das Gespräch für ihn beendet. Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
    Sehr ostfriesisch, dachte Anna, als sie das Auto anließ, und grinste in sich hinein. Würde mich nicht wundern, wenn er Harm Harmsen heißt. Oder Hinnerk Hinrichsen. Oder Eddo Siefken. Ihr Vater war ebenfalls Ostfriese, wenn auch aus einer anderen Ecke, und hatte sich sein Leben lang nicht durch übermäßige Redseligkeit hervorgetan.
    Die Wegbeschreibung des Mannes war jedenfalls korrekt. Schon nach wenigen Minuten hatte sie das Schiefe Grashaus hinter sich gelassen und fand den angegebenen Feldweg. Sie rumpelte durch die Schlaglöcher, die umso tückischer waren, als sie voller Wasser standen und Anna ihre Tiefe nur raten konnte. Kurz darauf sah sie in etwa dreihundert Metern Entfernung auch den Baum, den einzigen weit und breit, und hielt darauf zu. Der unbefestigte Weg machte noch zwei, drei Schlenker, die den Grenzen der Felder folgten, und dann sah sie es hinter einigen dichtstehenden Büschen auftauchen: Foelkenorth.
     
    Was auch immer Anna erwartet hatte, nichts hatte sie auf den Anblick vorbereitet, der sich ihr nun bot.
    Foelkenorth war nur ein einzelner, frei stehender Bauernhof, drei Gebäude um einen zentralen Platz gruppiert, doch im Gegensatz zu den anderen Höfen, die sie auf ihrer Irrfahrt durchs Harlingerland gesehen hatte, war dieser in einem katastrophalen Zustand. In den roten Schindeldächern der beiden Nebengebäude klafften riesige Löcher, und eine der vom Feldweg aus sichtbaren Außenwände neigte sich bedenklich. Anna misstraute dem Untergrund auf dem mit brusthohem Unkraut überwucherten Platz und parkte den Wagen mitten auf dem Feldweg. Es würde sich schon keiner daran stören. Sie zog den Schlüssel ab, sprach sich Mut zu, stieß die Autotür auf und stieg aus.
    Sofort hüllte der durchdringende Geruch nach Landwirtschaft sie ein. Eine Melange aus frischem, nassem Heu und Blumen, aus Kuhmist und Jauche und dem Salzduft der nur wenige Kilometer entfernten Nordsee lag über allem, und Anna atmete tief ein. Lüneburg mochte eine eher kleine Stadt sein, aber so gute Luft gab es dort nie. Für einen Moment vergaß Anna sogar den grauen Himmel und den grauen Regen und ihre grauen Gedanken. Zwei Minuten später war ihr dünner Sommerpullover durchgeweicht, und ein für die Jahreszeit viel zu kalter Wind ließ sie frösteln. Anna beugte sich ins Auto und zog einen Schirm hervor.
    Vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzend, bahnte sie sich einen Weg durch den Unkrautdschungel auf das Wohnhaus zu, während der Seewind an ihrem Schirm zupfte.
    »Hallo?« Annas Stimme verlor sich zwischen den Häusern. Sie räusperte sich und versuchte es noch einmal, lauter diesmal. »Hallo? Ist jemand
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