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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden
Autoren: Steffanie Burow
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war noch nie die Stärke ihres kleinen Bruders gewesen. Klein? Er war einen ganzen Kopf größer als Anna und genauso stämmig und blond wie sein Vater. »Du hast also in Mamis Kommode ein paar mysteriöse Briefe gefunden.«
    »Ja.« Anna umklammerte das Telefon und ging unruhig in ihrem Wohnzimmer auf und ab. Sie konnte keinen Moment stillstehen. »Fünf Briefe. Eine Ingrid Doggenfuss hat sie geschrieben. Vielleicht auch Laksmi Doggenfuss.«
    »Komischer Name«, brummte Timo, »habe ich noch nie gehört.«
    »Sie behauptet aber, Mamis beste Freundin zu sein. Oder jedenfalls gewesen zu sein. Es ist ja schon lange her. Über dreißig Jahre.«
    »Dann hat sich Mami wahrscheinlich fürchterlich mit ihr verkracht und sie deshalb nie wieder erwähnt.«
    »Schon möglich. Aber es erklärt trotzdem nicht das, was in den Briefen steht.«
    »Du meine Güte, mach es doch nicht so spannend.« Timo hörte sich jetzt ernsthaft verärgert an. »Was schreibt sie denn?«
    Anna holte tief Luft. Wenn sie nicht riskieren wollte, dass ihr Bruder einfach auflegte, musste sie sich jetzt zusammenreißen. »In den ersten beiden Briefen erzählt diese Laksmi von Indien. Es ist alles ein bisschen wirr, aber wenn ich es richtig verstehe, dann war sie bei einem Guru in einem Aschram. Wie dieser Bhagwan.«
    »Ja und? Ein Brief aus dem Urlaub.«
    »Vielleicht, aber dann war’s ein langer Urlaub. Zwischen den Briefen liegen vier Monate. Am Ende des zweiten Indienbriefs steht dann: ›Obwohl ich Dich und die anderen vermisse, war es eine gute Entscheidung, nicht mit Euch nach Nepal gefahren zu sein, es hat mir hier sehr gut gefallen. Leider bin ich mittlerweile völlig pleite und werde wohl demnächst nach Deutschland zurückkommen müssen. Ich bin gespannt, ob Ihr auch schon wieder auf dem Hof seid. Vielleicht bis bald! Deine Laksmi.‹ Was sagst du dazu?«
    »Hmm.«
    »Hmm? Ist das alles? Ich glaube, Mami war in Nepal. Verstehst du, in Nepal!«
    »Ja und? Was ist daran so schlimm?«
    »Schlimm? Natürlich ist es nicht schlimm, aber warum hat sie nie davon erzählt?«
    »Keine Ahnung. Sie wird ihre Gründe gehabt haben. Oder es war ihr nicht wichtig genug. Oder sie war gar nicht in Nepal. Oder, oder, oder. Wir können sie jedenfalls nicht mehr fragen.«
    Anna schluckte. War ihr Bruder wirklich so gefühllos? Nein, die Ruppigkeit war nur seine Art, mit dem Tod der Mutter umzugehen.
    »Vielleicht bausche ich das Ganze ja auch zu sehr auf«, antwortete sie leise. »Aber da ist noch mehr.«
    »Wie meinst du das?«
    »In den späteren Briefen erwähnt diese Ingrid immer wieder mich. Zumindest glaube ich, dass sie mich meint. Aber sie nennt mich nicht Anna.«
    »Sondern?«
    »Annapurna.«
    »Wie bitte?«
    »Du hast richtig gehört. Außerdem gratuliert sie Mami und Papi zum zweiten Hochzeitstag.«
    »Das ist doch nett.«
    »Ja, sicher. Aber der Brief ist auf den 3. November 1975 datiert. Da waren unsere Eltern bereits fünf Jahre verheiratet! 1975 war ich vier.«
    Timo lachte trocken. »Mathematik schein nicht Ingrids Stärke zu sein.«
    »Du meinst, sie hat sich einfach verrechnet?«
    »Natürlich! Was denn sonst? Wenn du dich bitte erinnern willst: Wir haben vor sieben, nein, acht Jahren Mamis und Papis silberne Hochzeit gefeiert. Eine mehr als öde Party«, fügte er bissig hinzu.
    »Fand ich nicht.«
    »Du bist mit den Langweilern aus Mamis und Papis Freundeskreis schon immer besser ausgekommen.«
    Anna ließ seine Bemerkung unkommentiert. Ihre Gedanken kreisten um etwas anderes. »Und wenn diese Ingrid sich nicht verrechnet hat? Wenn Mami und Papi erst geheiratet haben, nachdem ich auf der Welt war? Weil sie wegen mir heiraten mussten?«
    »Und wenn schon. Ich persönlich halte deine Spekulationen für völlig überflüssig. Ingrid hat unsere Eltern mit irgendeinem anderen Paar durcheinandergebracht. Das ist alles. Die konnte sich ja offensichtlich nicht einmal entscheiden, wie sie heißt. Ich muss jetzt Schluss machen, Tati hat gerade geklingelt. Sie hat bestimmt Brötchen dabei. Mach’s gut, Schwesterchen. Zerbrich dir nicht unnötig den Kopf. Schmeiß die Briefe weg oder verstau sie irgendwo, wenn du es nicht übers Herz bringst. Sie sind völlig unwichtig.«
    »Aber sie hat mich Annapurna genannt! Das muss doch etwas zu bedeuten haben.«
    »Klar hat das was zu bedeuten: Annapurna ist ein Berg in Nepal. Einer von den Achttausendern, glaube ich. Und jetzt tschüss, Tati klingelt schon Sturm.« Er unterbrach die Verbindung, ohne Annas Antwort
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