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Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
Autoren: Carmen Lobato
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»Dass ich gehe und dich hier zurücklasse? Dass ich dir den Rücken zuwende und mich in den Wald schlage, und hinter mir liegst du und stirbst? Wie kannst du denn das von mir glauben?«
    Sein Körper begann zu zittern, und seine Zähne klapperten so sehr, dass ihm das Sprechen schwerfiel. Sie musste alle Tücher um ihn wickeln, und zum Schluss umarmte sie ihn, auch wenn er sich bei jeder Berührung vor Schmerzen krümmte. »Ich habe so viel kaputtgemacht«, brachte er mühsam heraus. »Bitte lass mich nicht dich kaputtmachen. Darf ich dir noch etwas sagen, Anavera? Weil es jetzt darauf doch nicht mehr ankommt?«
    »Du kannst doch schon gar nicht mehr sprechen!«, rief sie. »Bitte lass mich Hilfe holen!«
    Er hielt sie umklammert. »Ich will es dir so gern sagen.« Seine Zunge schien geschwollen, und die Worte waren schwer verständlich. »Bitte.«
    »Dann sag es.«
    »Wenn wir hier herausgekommen wären, hätte ich deine Schwester bitten wollen, mir zu verzeihen. Mich für das Kind aufkommen und dann gehen zu lassen. Ich hätte deinen Vater gebeten, mir zu verzeihen und mir zu erlauben, um dich zu werben. Ich weiß nicht, wie man das macht. Ich hätte irgendwen finden müssen, der es mir erklärt, und ich glaube, ich kenne keinen einzigen Menschen, den ich mir nicht zum Feind gemacht habe. Doch. Otto Bierbrauer. Ich hätte Otto Bierbrauer gebeten, mir zu erklären, wie man um eine aztekische Prinzessin wirbt.«
    Anavera, die seinen großen schlotternden Körper in den Armen hielt, war übel vor Angst. Sie küsste seine Schläfe, die Stelle, wo das Leben pochte, drückte immer wieder ihre Lippen darauf und wollte ihm alle Zärtlichkeit der Welt geben, um ihn im Leben zu halten. »Es ist ja gut, mein Liebling. Streng dich jetzt nicht mehr an, ich bitte dich.«
    »Wenn ich alles getan hätte, wie Otto Bierbrauer es mir beigebracht hätte, Anavera …«
    »Dann wärst du mir auf die Nerven gegangen.«
    »Hättest du mich trotzdem genommen?«
    Sie drängte sich an ihn, hatte das Gefühl, dass die Glut des Fiebers und das Zittern auf sie übersprangen. »Einen Mann, der nicht lieben kann, Jaime?«
    »Ich hätte es gekonnt«, sagte er und küsste sie. »Otto Bierbrauer hätte es mir beigebracht.«

    Anaveras Gefühl nach lagen sie noch stundenlang wach und zitterten. Seine Atemzüge wurden kürzer und heftiger, und hin und wieder entfuhr ihm ein Stöhnen. Als der Morgen graute, glaubte sie, er sei für kurze Zeit eingeschlafen. »Stirb mir doch nicht«, sagte sie, »tu doch all den Unsinn, den du willst, aber stirb mir nicht.« Unendlich langsam löste sie sich aus seinen Armen und stand auf. Die Laken auf seinem Rücken waren von Blut und Eiter durchnässt. Am Eingang der Hütte stieß sie um ein Haar mit Iacinto Camay zusammen. »Bitte helfen Sie mir!«, schrie sie ihn an. »Mein Geliebter braucht einen Arzt. Er hat Fieber. Er stirbt!«
    »Ich helfe dir nicht, deinen Dzul zu retten«, sagte Camay. »Ich will nur, dass du ihn mir aus den Augen schaffst. Frag deinen Vater, ob er dir hilft. Er ist gekommen, um euer Geld zu bringen.«

Fünfter Teil
    Mexiko-Stadt
Sommer 1889
    »Pflück die Blumen, solange es Blumen zu pflücken gibt,
    Und vergib der Rose ihre dornige Schale.
    Unsere Schmerzen gehen vorbei und verfliegen
    Flüchtig wie Schmetterlinge mit dunklen Flügeln.«

    MANUEL GUTIÉRREZ NÁJERA

43
    Z weimal mannshoch ragte das Gitter vor ihr in den Himmel und trennte die Welt in zwei Hälften. Aber das Gitter würde nicht verschlossen bleiben.
    Als sie Tomás am Ende des Hofs aus dem Tor treten sah, sprang sie unwillkürlich in die Höhe und winkte mit beiden Armen, wie seine Mutter es immer tat. Er entdeckte sie und winkte auch. Die Sonne des Vormittags blendete sie, und er war noch weit entfernt, doch sie glaubte um seinen Mund ein Lächeln zu erkennen.
    Ein Wärter in Uniform war bei ihm, doch Tomás war nicht gefesselt. Er trug seine gewöhnliche Kleidung und das Bündel über dem Rücken, mit dem er so oft in Santiago de Querétaro aus dem Zug gestiegen war. Der Wärter blieb mit ihm stehen, händigte ihm ein paar Dinge aus und ließ ihn mehrere Papiere unterschreiben. Anavera wartete.
    Seit Wochen schon hätte er auf freiem Fuß sein sollen. Noch aus Valladolid hatte ihr Vater in die Hauptstadt telegraphiert, dass Jaime Sanchez Torrija die Beschuldigung, Tomás habe seinen Vater getötet, nicht aufrechterhielt. In einer seiner unvorhersehbaren Launen hatte Porfirio Diaz jedoch darauf bestanden, dem Geist des
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