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Im Sog der Angst

Im Sog der Angst

Titel: Im Sog der Angst
Autoren: Jonathan Kellerman
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dir den Fall in besseren Händen vorstellen?«, fragte ich.
    »Was soll das heißen?«
    »Das soll heißen, dass er bei dir gut aufgehoben ist.«
    Er antwortete nicht. Ich fuhr wegen zwei Kurven etwas langsamer und warf einen Blick auf ihn, als die Straße wieder gerade wurde. Ein winziges Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
    »Was bist du doch für ein Kumpel«, sagte er. Am nächsten Morgen traf ich mich mit Allison Gwynn zu einem frühen Frühstück, bevor sie sich ihrem ersten Patienten widmen würde. Ihre Praxis liegt in Santa Monica an der Montana, im Osten der Boutique Row, und wir hatten uns in einer Konditorei verabredet. Es war zwanzig vor acht, und das Café war noch relativ leer. Allison trug weiße Sandalen und ein weißes Leinenkostüm, das ihr langes schwarzes Haar hervorhob. Sie geht nie ohne Make-up und richtigen Schmuck aus. Heute waren es Stücke aus Koralle und Gold, die wir vor kurzem auf einem Ausflug nach Santa Fe entdeckt hatten.
    Sie saß schon da, als ich eintraf, und hatte bereits eine halbe Tasse Kaffee getrunken. »Guten Morgen. Du siehst mal wieder umwerfend aus.«
    Ich küsste sie und setzte mich. »Morgen, Süße.«
    Wir waren seit etwas mehr als sechs Monaten miteinander befreundet und immer noch in dem Stadium, in dem das Herz schneller schlägt und die Wangen Farbe annehmen.
    Wir bestellten süße Brötchen und setzten allmählich ein Gespräch in Gang. Zunächst ging es um unwichtige Dinge, dann um sexuelles Geplänkel, dann um unsere Arbeit. Fachgespräche können das Ende einer Beziehung bedeuten, aber bislang hatte ich sie genossen.
    Sie fing an. In der vergangenen Woche hatte sie viel zu tun gehabt, musste die Referate von Studenten aus ihren Lehrveranstaltungen benoten, hatte jede Menge Patienten, außerdem ihre ehrenamtliche Arbeit in einem Hospiz. Schließlich kamen wir auf die Ereignisse der vergangenen Nacht zu sprechen. Allison ist interessiert an dem, was ich tue - mehr als nur interessiert. Die hässlichsten Aspekte menschlichen Verhaltens üben eine starke *Anziehungskraft auf sie aus, und manchmal frage ich mich, ob es auch daran liegt, dass wir so unzertrennlich sind. Vielleicht hängt es mit Lebenserfahrung zusammen. Sie war als Teenager sexuell missbraucht worden, schon mit Mitte zwanzig verwitwet, hat immer eine Pistole in ihrer Handtasche und schießt gern mit ihr auf menschliche Zielscheiben aus Papier. Ich denke nicht oft darüber nach. Wenn man zu viel analysiert, bleibt keine Zeit mehr zum Leben.
    Ich beschrieb den Tatort.
    »Mulholland Drive«, sagte sie. »Als ich noch zur Beverly High ging, sind wir da immer zum Parken hingefahren.«
    »Wir?«
    Sie grinste. »Ich und all die anderen angeblichen Jungfrauen.«
    »Ein Erweckungserlebnis.«
    »Nicht damals, das kann ich dir flüstern«, erwiderte sie. »Von wegen Jungs und so - zu viel Begeisterung, nicht genug Feingefühl.«
    Ich lachte. »Also war es eine allseits bekannte Knutschecke.«
    »Die du verpasst hast, du armer Junge aus dem Mittleren Westen. Jawohl, mein Lieber, der Mulholland war die Knutschecke schlechthin. Ist es wahrscheinlich immer noch, obwohl dort vermutlich nicht mehr so viel gefummelt wird, weil die Kids es in ihren eigenen Zimmern tun dürfen. Ich bin erstaunt, wie viele meiner Patienten nichts dagegen einzuwenden haben. Du weißt, welche Begründung dahintersteht: Ich weiß lieber, wo sie sich rumtreiben.«
    »Es gibt zwei Familien, die wahrscheinlich in diesem Moment genauso denken.«
    Sie schob sich Haare hinters Ohr. »Tragisch.«
    Die Brötchen kamen, überzogen mit Mandelsplittern, warm. »Ein leer stehendes Haus«, sagte sie. »So einfallsreich waren wir nicht. Ihnen war vermutlich das Schild des Immobilienmaklers aufgefallen, außerdem stand das Tor offen, und die Gelegenheit haben sie beim Schopf gepackt. Die armen Eltern. Erst hat der Junge diesen Unfall, und jetzt das. Du hast gesagt, er wäre verändert gewesen. In welcher Beziehung?«
    »Sein Zimmer war ein Schweinestall, und seine Mutter behauptete, früher wäre er ordentlich gewesen. Sie hat dazu nicht viel gesagt. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um weitere Fragen zu stellen.«
    »Nein, natürlich nicht.«
    »Der Vater seiner Exfreundin hat ihn als zwanghaft bezeichnet«, sagte ich.
    »In welcher Hinsicht?«
    »Er tauchte häufig unerwartet bei dem Mädchen zu Hause auf. Und wenn sie nicht da war, ging er dem Vater auf die Nerven, indem er blieb und ihm Fragen stellte. Der Vater deutete auch an, dass Gavin
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