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Im Schwarm - Ansichten des Digitalen

Im Schwarm - Ansichten des Digitalen

Titel: Im Schwarm - Ansichten des Digitalen
Autoren: Byung-Chul Han
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»Non iscoprire se liberta t'e cara che '1 volto mio e carcere d'amore« (Nicht enthüllen, wenn dir die Freiheit lieb ist, denn mein Antlitz ist der Kerker der Liebe). 19 Dieser Spruch bringt eine besondere Erfahrung des Antlitzes zur Sprache, die heute im Zeitalter von facebook nicht mehr möglich ist. Das Face, das sich ausstellt und um Aufmerksamkeit buhlt, ist kein Antlitz. Ihm wohnt kein Blick inne. Die Intentionalität der Ausstellung zerstört jene Innerlichkeit, jene Zurückhaltung, die den Blick konstituiert: »In Wirklichkeit sieht er nichts an; er hält seine Liebe und seine Angst nach innen zurück: nichts anderes ist der Blick .« 20 Das ausgestellte Face ist kein antlitzhaftes Gegenüber, das mich in seinen Bann zieht und fesselt. So weicht der Kerker der Liebe heute der Hölle der Freiheit.

FLUCHT INS BILD
    Heute sind Bilder nicht nur Abbilder, sondern auch Vorbilder. Wir flüchten uns in die Bilder, um besser, schöner, lebendiger zu sein. Wir bedienen uns offenbar nicht nur der Technik, sondern auch der Bilder, um die Evolution voranzutreiben. Könnte es sein, dass die Evolution grundsätzlich auf einer Ein- Bild -ung beruht, dass das Imaginäre konstitutiv ist für die Evolution? Das digitale Medium vollendet jene ikonische Umkehrung, die die Bilder lebendiger, schöner, besser erscheinen lässt als die als mangelhaft wahrgenommene Realität: »Beim Anblick von Kaffeehausbesuchern bemerkte jemand nicht zu Unrecht: >Sehen Sie doch, wie tot sie wirken; in unserer Zeit sind die Bilder lebendiger als die Menschen.< Eines der Kennzeichen unserer Welt ist vielleicht diese Umkehrung: unser Leben folgt einem verallgemeinerten Imaginären. Nehmen Sie die Vereinigten Staaten: alles verwandelt sich dort in Bilder: es gibt nur Bilder, es werden nur Bilder produziert und konsumiert. 21
    Die Bilder, die als Abbilder eine optimierte Realität darstellen, vernichten gerade den ursprünglichen ikonischen Wert des Bildes. Sie werden in Geiselschaft genommen durch das Reale. Daher sind wir heute trotz oder gerade wegen der Bilderflut ikonoklastisch. Die konsumierbar gemachten Bilder zerstören die besondere Semantik und Poetik des Bildes, das mehr ist als bloßes Abbild des Realen. Die Bilder werden gezähmt, indem sie konsumierbar gemacht werden. Diese Zähmung der Bilder bringt ihre Verrücktheit zum Verschwinden. So werden sie um ihre Wahrheit gebracht.
     
    Das sogenannte Paris-Syndrom bezeichnet eine akute psychische Störung, die meist die japanischen Touristen betrifft. Die Betroffenen leiden unter Halluzination, Derealisation, Depersonalisation, Angst sowie psychosomatischen Symptomen wie Schwindel, Schwitzen oder Herzrasen. Der Auslöser ist die starke Differenz zwischen dem Idealbild von Paris, das die Japaner vor der Reise haben, und der Realität der Stadt, die vom Idealbild massiv abweicht. Es ist anzunehmen, dass die zwanghafte, fast hysterische Neigung der japanischen Touristen, Fotos zu machen, eine unbewusste Schutzreaktion darstellt, die darauf abzielt, das erschreckende Reale durch Bilder zu bannen. Schöne Fotos als Idealbilder schirmen sie von der schmutzigen Realität ab.
     
    Hitchcocks Film »Rear Window« (dt: Fenster zum Hof) veranschaulicht den Zusammenhang zwischen der Schockerfahrung durch das Reale und dem Bild als Abschirmung. Die lautliche Nähe zwischen rear und real ist ein weiterer Hinweis darauf. Das Window zum Hof ist eine Augenweide. Der an den Rollstuhl gefesselte Fotograf Jeff (James Stewart) sitzt am Fenster und weidet sich an dem sich am Fenster darbietenden burlesken Leben der Nachbarn. Eines Tages glaubt er Zeuge eines Mordes geworden zu sein. Der Verdächtigte merkt, dass er von Jeff, der ihm gegenüber wohnt, heimlich beobachtet wird. In diesem Moment blickt er Jeff an. Dieser unheimliche Blick des Anderen, ja der Blick aus dem Realen zerstört das Rear Window als Augenweide. Schließlich bricht der Verdächtigte, das unheimliche Reale in seine Wohnung ein. Jeff, der Fotograf, versucht ihn mit dem Kamerablitz zu blenden, das heißt, wieder ins Bild zu bannen, ja sogar zurückzudrängen, was ihm jedoch nicht gelingt. Jeff wird von dem Verdächtigten, der sich nun tatsächlich als Mörder entpuppt, aus dem Window geworfen. In diesem Moment wird aus dem Rear Window ein Real Window. Der Schluss des Films:
    Das Real Window verwandelt sich zurück in die Augenweide, ins Rear Window.
    Im Gegensatz zum Rear Window ist die Gefahr des Einbruchs des Realen, ja des Anderen bei
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