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Im Schwarm - Ansichten des Digitalen

Im Schwarm - Ansichten des Digitalen

Titel: Im Schwarm - Ansichten des Digitalen
Autoren: Byung-Chul Han
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digitalen Windows nicht gegeben. Als digitale Fenster schirmen sie uns effektiver vor dem Realen ab als das Rear Window. Sie folgen dem verallgemeinerten Imaginären. Das digitale Medium schafft mehr Distanz zum Realen als analoge Medien. Es besteht nämlich weniger Analogie zwischen dem Digitalen und dem Realen.
     
    Heute produzieren wir mithilfe des digitalen Mediums Bilder in enormer Menge. Auch diese massive Bildproduktion lässt sich als eine Schutz- und Fluchtreaktion deuten. Heute erfasst der Optimierungswahn auch die Bildproduktion. Wir flüchten uns in die Bilder angesichts der als unvollkommen empfundenen Realität. Es sind nicht Religionen, sondern Optimierungstechniken, mit deren Hilfe wir uns der Faktizität wie Körper, Zeit, Tod etc. entgegenstellen. Das digitale Medium ist defaktifizierend.
     
    Das digitale Medium ist ohne Alter, Schicksal und Tod. In ihm ist die Zeit selbst eingefroren. Es ist ein zeitloses Medium. Das analoge Medium dagegen leidet an der Zeit. Die Passion ist ihre Ausdrucksform: »Nicht nur teilt das Foto das Schicksal des (vergänglichen) Papiers, es ist, auch wenn es auf härterem Material fixiert wird, um nichts weniger sterblich: wie ein lebender Organismus wird es geboren aus keimenden Silberkörnchen, erblüht es für einen Augenblick, um alsbald zu altern. Angegriffen vom Licht und von der Feuchtigkeit, verblasst es, erschöpft es sich und verschwindet f...].« 22 Barthes verknüpft mit der analogen Fotografie eine Lebensform, für die die Negativität der Zeit konstitutiv ist. Das digitale Bild, das digitale Medium dagegen geht mit einer anderen Lebensform einher, in der sowohl das Werden als auch das Altern, sowohl die Geburt als auch das Sterben ausgelöscht sind. Eine permanente Präsenz und Gegenwart zeichnet es aus. Das digitale Bild erblüht oder erglänzt nicht, denn dem Erblühen ist die Negativität des Verwelkens, dem Glanz die Negativität des Schattens eingeschrieben.

VOM HANDELN ZUM FINGERN
    Das Verb für Geschichte ist handeln. Hannah Arendt begreift es als das Vermögen, »ein initium zu setzen«, das heißt, etwas Neues, etwas ganz Anderes beginnen zu lassen. Dabei erhebt sie die Natalität, das Geborensein, zur ontologischen Bedingung für das Handeln. Jede Geburt verspricht einen Neubeginn. Handeln heißt einen neuen Anfang machen, eine neue Welt beginnen lassen. 23 Angesichts der automatischen Prozesse, denen die Welt unterworfen ist, gleiche das Handeln einem »Wunder«. 24 Seine »wunderwirkende Fähigkeit« begründe »Vertrauen« und »Hoffnung«. Diese soteriologische Dimension des Handelns sei »nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien >die frohe Botschaft« verkünden: >Uns ist ein Kind geboren.«« 25
    Ist heute das Handeln in jenem emphatischen Sinne noch möglich? Ist unser Tun nicht jenen automatischen Prozessen ausgeliefert, die sich auch durch ein Wunder des radikalen Neubeginns nicht mehr unterbrechen ließen und in denen wir nicht mehr Subjekt unserer Entscheidungen sind? Bilden die Digital- und die Kapitalmaschine nicht eine unheimliche Allianz, die eine solche Freiheit des Handelns zunichte macht? Leben wir heute nicht in einer Zeit des Untoten, in der nicht nur das Geborensein, sondern auch das Sterben unmöglich geworden ist? Die Natalität bildet das Fundament des politischen Denkens, während die Sterblichkeit das Faktum darstellt, an dem sich das metaphysische Denken entzündet. Das digitale Zeitalter des Untoten ist, so gesehen, weder politisch noch metaphysisch. Es ist vielmehr postpolitisch und postmetaphysisch. Das bloße Leben, das es um jeden Preis zu verlängern gilt, ist ohne Geburt und ohne Tod. Die Zeit des Digitalen ist ein postnatales und postmortales Zeitalter.
     
    Vilem Flusser prophezeit: Der Mensch mit seinen digitalen Apparaten lebt bereits heute das »undingliche Leben« von morgen. Kennzeichnend für dieses neue Leben ist die »Atrophie der Hände«. Die digitalen Apparate lassen die Hände verkümmern. Sie bedeuten aber eine Befreiung von der Last der Materie. Der künftige Mensch wird keine Hände mehr benötigen. Er wird nichts mehr behandeln und bearbeiten müssen, denn er hat nicht mit materiellen Dingen, sondern nur mit undinglichen Informationen zu tun. An die Stelle der Hände treten die Finger. Der neue Mensch fingert, statt zu handeln. Er wird nur spielen und genießen wollen. Nicht Arbeit, sondern Muße wird sein Leben charakterisieren. Der Mensch
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