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Im Schatten des Schloessli

Im Schatten des Schloessli

Titel: Im Schatten des Schloessli
Autoren: Ursula Kahi
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lenken. Allerdings steht dort ein sechster Arbeiter. Dieser hätte absolut keine Chance, sich vor dem heranrasenden Güterwaggon in Sicherheit zu bringen. Was würden Sie tun? Würden Sie den einen Mann töten, um die fünf zu retten?»
    Gody Metzger sah Unold fragend an. «Ich verstehe nicht –»
    «Sagen Sie einfach, wie Sie sich entscheiden würden: die Weiche umlegen oder nicht? Die fünf retten oder nicht?»
    «Also … ich weiss nicht … retten, nehme ich an.»
    Unold nickte. «Gut. Jetzt stellen Sie sich folgende Situation vor: Wieder sind da die fünf Männer auf dem Geleise. Wieder rast der abgekoppelte Güterwaggon auf sie zu, ohne dass sie etwas davon mitbekommen. Wieder wird Ihnen klar, in welcher Gefahr die Männer schweben. Allerdings stehen Sie dieses Mal nicht mehr neben einer Weiche, sondern auf einer Fussgängerbrücke. Da geht zufällig ein Mann an Ihnen vorbei. Er ist so dick, dass sein Körper den Waggon todsicher bremsen würde, bevor er die fünf Arbeiter erreichte. Alles, was Sie tun müssten, ist, den Mann von der Brücke zu stossen. Was würden Sie jetzt tun? Würden Sie diesen einen Unschuldigen vor den Eisenbahnwaggon stossen und ihn so töten, um die fünf anderen zu retten?»
    «Ich …», brachte Gody Metzger mühsam hervor. Er keuchte. Seine fahle Stirn hob sich kaum mehr vom weissen Kissen ab. «Keinen … Unschuldigen –» Schrill durchschnitt der rhythmische Alarm des Überwachungsmonitors den Raum. Das Lämpchen über der Tür blinkte hektisch.
    Bevor Flora wusste, wie ihr geschah, fand sie sich mit Unold auf dem Krankenhausflur wieder. Die klappernden Schritte und das Stimmengewirr um sie herum nahm sie wie durch Watte wahr. Widerstandslos liess sie sich von Unold zur Sitzgruppe beim Lift führen, der in unregelmässigen Abständen weiss gekleidete Gestalten in Crocs und ernst blickende Menschen in Strassenkleidung ausspuckte.
    Sie sah die Männer nur einen Sekundenbruchteil, nachdem sie Unolds Händedruck gespürt hatte.
    « Porca miseria , Flora, du hier?»
    «D-d-die Flora hat eben ein grosses Herz.»
    «Was man von dem hier nicht behaupten kann.» Kurt Bretscher bedachte Unold mit einem giftigen Blick. «Wenigstens ist dieser Geigy nicht hier.»
    «An Ihrer Stelle würde ich Gott dafür danken.»
    «Jetzt denk doch nicht immer an den. Wir sollten lieber nach Gody sehen. Routine hin oder her: Mit einer Operation am Herzen ist nicht zu spassen.»
    «M-m-meine Rede, Köbi. G-G-Gody hat es selbst gesagt: D-d-drei verengte Herzkranzgefässe – u-u-und das sofort nach dem Abgang aus der Aorta – d-d-das ist nicht ohne.»
    Flora presste beide Hände auf die Ohren. «Könnt ihr nicht einfach die Klappe halten?»
    « Porca miseria , ist was nicht in Ordnung? Und überhaupt, du bist ja ganz blass.»
    «Ob was nicht in Ordnung ist? Fragen Sie mal ihre beiden Freunde hier.» Mit einem Seitenblick auf Flora, die unregelmässig und viel zu schnell atmete, stand Unold auf, ging zum nächstgelegenen Fenster und öffnete beide Flügel weit.
    «J-j-jetzt schau mich nicht so v-v-vorwurfsvoll an, Vincenzo, i-i-ich weiss von nichts.»
    «Ich auch nicht.» Hans-Jakob Käser hob abwehrend die Hände. «Ich hab nichts getan.»
    «Bloss Robin Hood der Moderne gespielt und einen Bumerang geworfen … Verdammte Scheisse!» Unold klang weniger anklagend als vielmehr verzweifelt. Immer wieder schaute er zu Gody Metzgers Zimmer.
    Hans-Jakob Käser öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, da packte ihn Kurt Bretscher am Arm. «Da stimmt doch was nicht!» Verstört wies Bretscher den Flur hinunter. Die nervöse Aktivität von eben war einer unnatürlichen Ruhe gewichen, die durch den gleichmässigen hohen Ton, der in der Luft hing, noch unterstrichen wurde.
    «Porca miseria!» Vincenzo Bionda starrte in die Richtung, aus der der Laut kam. «Das ist doch das Zimmer von Gody!» Ohne weiter auf seine Freunde zu achten, rannte er los. Kurt Bretscher, Hans-Jakob Käser und Alain Schaad zögerten nur kurz, dann folgten sie ihm eilig.
    Unold, der sich wieder neben Flora gesetzt hatte, verharrte zusammengesunken, den Kopf auf den Knien.
    «Das glaub ich jetzt nicht. Hueresiech, Unold! Ich hab Ihnen nicht den Vormittag freigegeben, damit Sie einen Sololauf hinlegen.»
    Unold musste nicht erst den Kopf heben, um zu wissen, dass Geigy vor ihm stand und vor Wut schäumte.
    «Eine so gute Erklärung für Ihre Anwesenheit im Kantonsspital, wie Sie sie jetzt bräuchten, gibt es überhaupt nicht. Zum Jassen sind Sie
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