Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schatten des Schloessli

Im Schatten des Schloessli

Titel: Im Schatten des Schloessli
Autoren: Ursula Kahi
Vom Netzwerk:
Kapo.»
    «Danke», raunte sie.
    «Wofür?»
    «Für die Ablenkung.»
    «In jener Zeit gab es fünf unbedingt todeswürdige Delikte: Mord und Totschlag, Kindsmord, Hexerei, Sodomie und Bestialität sowie Blutschande. Um wegen Hexerei angeklagt zu werden, genügte es, dass ein Mann berichtete, die Soundso habe ihn aufmerksam angeschaut, und jetzt tue ihm der Arm weh.»
    Flora spürte, wie Unold sie ansah. «Was?»
    «Ich fragte mich, was Sie bei Vollmond so alles treiben.»
    «Klappe!» Sie gab es nur ungern zu, aber je länger sie dem Bericht der Erzählerin folgte, desto mehr wurde sie von dem, was sie hörte, in den Bann gezogen. Als der Vortrag nach einer knappen halben Stunde zu Ende war, bedauerte sie es aufrichtig. Kaum war sie nicht mehr gezwungen, sich auf die Informationen zu konzentrieren, kreisten ihre Gedanken wieder um die Schlitzohren. Und ehe sie sich versah, rutschte es aus ihr heraus: «Darf ich Sie etwas fragen?»
    Die Frau, die eben an Flora vorbei zum Ausgang ging, blieb stehen und drehte sich nach ihr um. «Bitte?»
    Einen Augenblick war Flora versucht, so zu tun, als handle es sich um einen Irrtum. Dann aber fasste sie sich ein Herz. «Die Schlitzohren, was hat es damit auf sich?»
    «Das Ohrenschlitzen war eine der Leibstrafen», lautete die prompte Antwort.
    «Welches Vergehen wurde damit bestraft?»
    «Diebstahl.»
    «Oh», machte Flora erstaunt. «Ich dachte, Dieben hätte man einen Finger oder eine Hand abgehackt.»
    «Das auch. Aber je nach den Vorlieben des Landvogts wurden einem Dieb eben auch die Ohren geschlitzt oder sogar abgeschnitten.»
    «Warum das denn? Mit geschlitzten Ohren konnte man doch noch genauso gut stehlen wie vorher.»
    «Nicht unbedingt, denn nun konnte jeder sofort erkennen, dass er einen verurteilten Dieb vor sich hatte.»
    «Einen Dieb.» Unold sah Flora an.
    Sie schien nicht zu verstehen.
    «Das Anreizsystem!»
    Ratlos zuckte sie mit den Schultern.
    «Falls Sie sich für die Gauner und Diebe dieser Region interessieren, könnte auch die Geschichte von Bernhard Matter etwas für Sie sein», brachte sich die Historikerin wieder in Erinnerung. «Ist Ihnen der Name ein Begriff?»
    Flora verneinte.
    «Bernhard Matter war bis über die Kantonsgrenze hinaus bekannt. Am 26. Mai 1854 wurde er in Lenzburg hingerichtet. Übrigens war dies das letzte Todesurteil, das im Kanton Aargau gefällt und durch das Schwert des Scharfrichters vollstreckt wurde. Sosehr Matter von der Obrigkeit gehasst wurde, sosehr verehrte ihn das arme Volk. Es heisst, er sei ein Freund der Armen gewesen. Wie Robin Hood habe er das, was er den Reichen abgenommen habe, freigiebig unter den Bedürftigen verteilt.»
    «‹Dr Gaunerkönig Bärnhard Matter›», hauchte Flora.
    «Genau. Waren Sie in der Aufführung im Theater ‹Tuchlaube›?»
    «Ich nicht, aber Freunde von mir.» Ihr wurde abwechselnd heiss und kalt.
    «Und? Hat ihnen das Stück gefallen? Bestimmt hat es das. Es ist wirklich toll. So ein Matter täte auch unserer Zeit gut.»
    Flora dachte an Stephan. An Morton. An geschlitzte Ohren. Ist fast wie im Mittelalter, hörte Sie Kurt Bretscher sagen, da hat man den Räubern und Dieben über Nasen, Hände und Füsse auch so ziemlich alles abgeschnitten. Ihr Puls ging rasend schnell, dann – von einem Moment auf den andern – war er kaum mehr zu spüren. Vor ihren Augen drehte sich alles. Sie klammerte sich an Unolds Arm, dann sackte sie zusammen.

ZWANZIG
    «Ja?» Gody Metzgers Augen strahlten, als Flora gefolgt von Unold sein Krankenzimmer betrat. Ein Blick auf Floras Gesicht, und sein Lächeln verschwand. «Ist was?»
    «Das wollen wir von dir wissen.» Flora blieb am Fussende des Bettes stehen und schielte unbehaglich zu Unold.
    «Die OP ist heute Abend. Die Ärzte sind optimistisch, dass ich’s überstehe – falls du dir deshalb Sorgen machst.»
    «Das auch, aber darum geht’s jetzt nicht.»
    «Kennen Sie das Trolley-Problem?» Unold nahm den Besucherstuhl, der neben dem grauen Krankenhaustischchen an der Wand stand, schob ihn an Gody Metzgers Bett und setzte sich.
    «Nie gehört», sagte Gody Metzger verwundert.
    «Ist ganz einfach. Ich erklär’s Ihnen: Ein Gleisbautrupp bestehend aus fünf Mann bessert eine Schiene aus. Ohne dass die Männer etwas davon ahnen, rast ein abgekoppelter Güterwaggon auf sie zu. Sie stehen zufällig neben einer Weiche, und Ihnen wird bewusst, in welcher Gefahr die Männer schweben. Wenn Sie die Weiche umlegen, könnten Sie den Waggon auf ein Nebengleis
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher