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Im Namen der Gerechtigkeit - Roman

Im Namen der Gerechtigkeit - Roman

Titel: Im Namen der Gerechtigkeit - Roman
Autoren: Nagel & Kimche AG
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Komisch, nicht?» Sie lächelte. «Doch das hier geht nicht nur Sie und mich etwas an. Es geht uns alle an. Jedes Mal, wenn wir so tun, als ob nichts wäre, stirbt ein Stückchen der Welt. Also müssen wir alles einsetzen, was wir haben.»
    «Leichte Waffen», sagte Doni.
    «Genau. Ich habe meine, Sie haben Ihre.»
    Doni betrachtete die Autos, die durch die Via Larga fuhren. Eine endlose Prozession von Leuten im Feierabendverkehr. Im Brunnen auf der Piazza Santo Stefano benetzte ein indischer Rosenverkäufer seinen Strauß.
    Alles schien auch ohne sie beide bestens zu laufen, auch ohne die Pflicht zu einer Entscheidung, auch ohne jede innere Qual: die tiefe, alles überdeckende Barmherzigkeit der Welt.
    «Ich will dir etwas zeigen», sagte er.
    «Was denn?»
    «Du wirst schon sehen.»
    Elena nickte. Sie wirkte ein wenig abgespannt. In dem immer heftiger werdenden Regen gingen sie zum Justizpalast. Elena hielt sich schützend die Handtasche über den Kopf. Doni führte sie in die Via Manara und trat dicht an die Wand des Palazzos heran. Er hob den Arm.
    «Siehst du diese Flecken?», fragte er.
    «Was für Flecken?»
    «Die Flecken in den Steinquadern. Siehst du sie?»
    «Ach so. Ja.»
    «Das sind keine Flecken. Das sind Nägel.»
    Sie wandte sich zu ihm und schaute ihn an.
    «Nägel?»
    «Ja. Sie sind da, weil die Wände sonst einstürzen würden. Als der Justizpalast aufgestockt wurde», er wies auf das schwarze Dach, «begann das Gebäude nachzugeben, es besteht die Gefahr, dass der Marmor nicht hält. Darum diese Nägel.»
    «Das ist ja absurd.»
    Doni zuckte mit den Schultern.
    «Warum wollten Sie mir das zeigen?»
    «Das wollte ich dir gar nicht zeigen. Oder zumindest nicht nur das. Nun ja, seit wir uns kennen, denke ich über diese Nägel nach. Aber wie gesagt, die wollte ich dir gar nicht zeigen. Komm.»
    Sie gingen die Straße entlang bis zur Rückseite des Gebäudes. Doni bat Elena, sich umzudrehen. Die rückwärtige Fassade sah aus wie ein zweiter, in den ersten gravierter Verfall.
    «Lies die Inschrift», sagte Doni.
    «Welche Inschrift?»
    «Die dort. Fiat iustitia … »
    « Fiat iustitia ne pereat mundus », las Elena.
    «Weißt du, was das bedeutet?»
    «Es möge Gerechtigkeit walten, damit die Welt nicht untergeht?»
    «Genau.»
    «Das Gymnasium liegt schon zwölf Jahre zurück, aber ich halte mich noch ganz gut.» Sie lächelte.
    «Ja», sagte Doni. «Nur schade, dass in diesem Satz ein Fehler steckt.»
    «Ein Fehler?»
    «Ja. Der Originalsatz lautete anders, man hat ihn während des Faschismus verändert – wahrscheinlich, weil er zu stark war, zu absolut. Zu unbegründet, in gewisser Weise. Doch das Interessante ist, dass man ihn nie wiederhergestellt hat. Ganz als wollte dieser Palazzo, wie soll ich sagen, die falsche Version der Dinge bewahren, obwohl das natürlich nicht so ist.» Er seufzte. «Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass ich diesen Ort hasse oder ihn absurd finde. Nur manchmal … Ich weiß nicht.»
    «Wie lautete der Satz denn ursprünglich?»
    Doni kniff leicht die Augen zusammen und schaute zur Fassade.
    « Fiat iustitia et pereat mundus », sagte er, wobei er das et betonte. «Es möge Gerechtigkeit walten und wenn die Welt auch untergeht. Es möge Gerechtigkeit walten, komme, was da wolle.» Er wandte sich wieder zu Elena. «Das wollte ich dir zeigen. Nur wenige wissen davon, und ich spreche sonst mit niemandem darüber. Aber es ist schon sonderbar, nicht?»
    «Ja.»
    «Was hältst du davon?»
    «Ich denke, dass es sonderbar ist.»
    «Ja, wirklich.»
    «Ja.»
    Sie schwiegen lange, den Blick auf die Reliefschrift der Fassade geheftet, auf die dicken Buchstaben und den Fehler, den sie, die Zeiten überdauernd, enthielten. Kein einziges Auto mehr auf der Straße. Kein einziges Geräusch außer dem Prasseln des Regens auf dem Asphalt.
    Nach einer Weile gab Elena dem alten Staatsanwalt die Hand.
    «Danke für alles», sagte sie. «Ich hoffe, wir sehen uns wieder, irgendwann.»

34
    AUF DEM STUHL kniend betrachtete Doni La Tours heiligen Joseph . Seine Nase war nur wenige Zentimeter von der Reproduktion entfernt. Er versuchte, die Feinheiten zwischen den Fingern des Engels und dem Bart des Heiligen zu erkennen, wollte wissen, ob der Engel ihn kitzelte oder ob er nur kurz davor war, ihn zu berühren.
    Der Kontrast zwischen dem Arm des Engels und dem Gesicht des Schlafenden war enorm. Zwei Dimensionen, die unvereinbar wirkten. Der Traum war dichter und stofflicher als die
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