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Im Namen der Gerechtigkeit - Roman

Im Namen der Gerechtigkeit - Roman

Titel: Im Namen der Gerechtigkeit - Roman
Autoren: Nagel & Kimche AG
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blieb.
    Als Doni 1990 auf einer nationalen Tagung seines Richterverbandes Borsellino kennenlernte, war Cattaneo der Erste, den er anrief, um sich mit ihm über diesen Mann und seinen Kampf gegen die Mafia auszutauschen.
    Als er zwei Jahre darauf seinen eigenen ersten, großen Prozess gegen das organisierte Verbrechen führte, war es Cattaneo, dem er von seinen Zweifeln erzählte, als er glaubte, den Verstand zu verlieren: die schrecklichen Nächte mit angstlösenden Medikamenten und Albträumen, während Elisa mit Selbstmord drohte, weil ihr Freund sie verlassen hatte, Claudia nichts mehr einfiel, was sie ihm noch raten konnte, und er Zeile um Zeile für ein Wohl kämpfte, das nicht seines war.
    Der Kontakt zwischen ihm und dem alten Lehrer war zwar seltener geworden, schien aber gleichzeitig immer enger zu werden.
    Er fuhr an den Ausfahrten von Saronno und Turate vorbei. Die Autostrada dei Laghi lief geradewegs in eine Regenwolke hinein, wie ein Einschnitt in ein reiches und zugleich feindseliges Land.
    Hin und wieder hörte Doni die Geschichten seiner Kollegen, die in dieser Gegend wohnten und mit den Zügen der Ferrovie Nord pendelten. Legenden von Verspätungen an der Grenze zum Unwahrscheinlichen, Ortschaften, in denen abends um acht die Lichter ausgingen und es keine Buchhandlung, kein Theater, kein Kino gab, nichts, nur die Blase des Hinterlands und Leute, die bis zum Umfallen arbeiteten. Schon in der Geometrie dieser Gegend lag etwas Ödes, vielleicht wegen ihrer Flachlage, und auch in dem nie erreichten Gleichgewicht zwischen Stadt und Land.
    Doch je weiter er nach Norden fuhr, umso sanfter wurde die Landschaft. Sie begann hügelig zu werden, und als Doni in Grandate abfuhr, fühlte er sich frischer. Während er an einer Ampel stand, suchte er auf der Karte, die er sich ausgedruckt hatte, mit der rechten Hand nach dem Weg. Ein Hupen hinter ihm hinderte ihn daran, ihn zu finden.
    Fünf Minuten später hatte er sich verfahren. Das hatte er geahnt. In diesen Orten gab es keine Orientierung, keine exakte Beschilderung. Sie schienen extra dazu da zu sein, Ortsunkundige in den Wahnsinn zu treiben. Er ergab sich seinem Schicksal, fuhr rechts heran und bat zwei Jungen um Auskunft, die mit ihren Fahrrädern an einem Feld standen. Mit den neuen Hinweisen fand er das Dorf.
    Nun war es leicht. Cattaneos Haus lag am weitesten vom Ortskern entfernt, einsam am Fuß eines abgelegenen Hügels, ein kleines Landhaus aus rotem Backstein mit einem Zaun ringsum. Doni parkte auf dem Schotter und stieg aus. Der Regen war dichter geworden und die Kälte schneidend. Er hatte nicht mehr als fünfzig Kilometer zurückgelegt, und doch war die Welt hier im Vergleich zu Mailand bereits eine andere und noch fest dem Winter verhaftet.
    Zwei deutsche Schäferhunde kamen ihm entgegen, ohne zu bellen. Doni klingelte und wartete, der Zaun endete an einem kleinen Gittertor. Cattaneo erschien an der Haustür und rief ihm zu, er möge doch hereinkommen.
    «Keine Angst, die Hunde beißen nicht.»
    Doni ging auf einer Steinreihe entlang, die als Weg diente. Die Hunde folgten ihm und schnüffelten an seinen Fußgelenken. Das Gras war nass, in der Luft lag ein stechender, herber Geruch. Als Doni das Haus betreten hatte, zog er seinen Mantel aus, den Cattaneo ihm abnahm, um ihn an die Garderobe zu hängen. Sie umarmten sich.
    «Wie lange haben wir uns nicht gesehen?», fragte der Alte.
    «Viel zu lange.»
    «Du siehst fit aus.»
    «Ich? Du bist doch derjenige, der immer derselbe bleibt, Professore.»
    Doni musterte ihn mit einem Lächeln. Ja, er sah aus wie immer: klein, untersetzt, mit dichtem, nunmehr weißem Haar und der ins Gesicht gedrückten Brille.
    Seine Frau kam aus der Küche. Doni hatte sie erst zweimal gesehen. Sie war bildschön. Eine der wenigen Frauen, bei denen das fortgeschrittene Alter die früheren Gesichtszüge und Formen nicht zerstörte, sondern ihnen das Signum eines herbstlichen Glanzes verlieh. Zu vergleichen mit dem Prozess, der aus einem Tempel eine edle Ruine machte. Darin lag keine Zerstörung, sondern lediglich das Wissen um eine verlorene Zeit, während sie sich heute aus anderen Gründen bewundern ließ.
    «Wie geht es Ihnen?»
    «Gut», sagte Doni und drückte ihr sacht die Fingerspitzen. Sie hatte blaue Augen und trug ein rotes Kleid, das ihr ein mädchenhaftes Aussehen verlieh.
    «Es freut mich, dass Sie uns besuchen. Hierher kommt sonst niemand.»
    Doni lächelte. Er wusste nicht, was er antworten sollte. Cattaneo
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