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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile
Autoren: Fabio Geda
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an, um sich mit ihm abzustimmen. Sie sagte ihm, wann und wo wir ankämen. Alles ging gut. In Turin erkannten Payam und ich uns auf Anhieb – und das inmitten des Gewimmels von Gepäckwagen, Koffern und Kindern, die gerade von einem Schulausflug zurückkehrten: Als wir uns das letzte Mal gesehen hatten, war ich ungefähr neun gewesen, jetzt war ich um die fünfzehn. Payam war zwei, drei Jahre älter als ich, und unsere Stimmen kamen uns ganz fremd vor.
    Payam war es auch, der mich zur Ausländerbehörde für unbegleitete Minderjährige brachte. Und zwar ohne mir überhaupt Zeit zu lassen, mich an die Form der Häuser und die kalte Temperatur zu gewöhnen (es war Mitte September). Ich spürte noch die Wärme seiner Umarmung, als er mich auch schon fragte, was ich jetzt vorhabe. Ich müsse jetzt eine Entscheidung treffen. Denn wer keine Aufenthaltserlaubnis besitze, könne sich Unentschiedenheit nicht leisten. Ich sah aus dem Fenster der Cafeteria, wo wir gerade einen Cappuccino tranken – ich kenne einen Ort, an dem es den besten Cappuccino überhaupt gibt, hatte er gesagt –, und musste an die beiden Italiener denken, die so nett zu mir gewesen waren: an den Jungen aus Venedig und die Frau im Zug. So nett, dass ich im selben Land leben wollte wie sie. Wenn alle Italiener so sind, dachte ich, kann ich auch hierbleiben. Ehrlich gesagt war ich es leid, ständig unterwegs zu sein. Also sagte ich zu Payam: Ich möchte in Italien bleiben. Gut, erwiderte er, lächelte, zahlte den Cappuccino, wobei er den Barista begrüßte, den er zu kennen schien, und brachte mich zur Ausländerbehörde für unbegleitete Minderjährige.
    Die Sonne ging unter, und ein starker Wind fegte durch die Straßen. Als wir dort ankamen, war es schon spät, und die Behörde schloss gerade. Payam schilderte meine Lage, und als die Frau erklärte, dass sie keinen Platz für mich habe – weder hier noch anderswo – und dass ich eine Woche allein zurechtkommen müsse, bat er sie, kurz zu warten. Dann wandte er sich an mich und wiederholte Wort für Wort, was sie gesagt hatte. Ich zuckte die Achseln. Wir bedankten uns und gingen.
    Auch er lebte in einem Asylantenheim und konnte mich nicht bei sich aufnehmen.
    Ich kann in einem Park schlafen, sagte ich.
    Ich will nicht, dass du in einem Park schläfst, Enaiat. Ich habe einen Freund, der außerhalb von Turin wohnt. Ich werde ihn bitten, dich aufzunehmen. Und so rief Payam seinen Freund an, der sofort einverstanden war. Gemeinsam gingen wir zum Busbahnhof, und Payam beschwor mich, nicht auszusteigen, bis sich jemand zu mir hineinbeugen und mich bitten würde, ihm zu folgen. Ich gehorchte. Nach einer Stunde Fahrt tauchte an einer Haltestelle der Kopf eines Afghanen in der Bustür auf. Er gab mir ein Zeichen, dass ich angekommen sei.
    Ich ging mit ihm nach Hause, aber nach drei Tagen sagte er mir aus irgendeinem unerfindlichen Grund, dass es ihm furchtbar leid tue, aber er könne mich nicht länger beherbergen. Ich sei illegal, auch wenn ich mich freiwillig bei der Ausländerbehörde für unbegleitete Minderjährige gemeldet habe. Und wenn die Polizei mich bei ihm finde, könne er seine Aufenthaltserlaubnis verlieren.
    Natürlich sagte ich, er solle sich keine Sorgen machen, ich hätte nicht vor, ihn in Schwierigkeiten zu bringen. Ich habe so lange in Parks geschlafen, sagte ich, dass es auf die eine oder andere Nacht auch nicht mehr ankommt.
    Aber als Payam davon erfuhr, sagte er erneut: Nein, ich will nicht, dass du im Park schläfst. Vorher möchte ich noch jemand anderen um Hilfe bitten.
    Dieser Jemand war Danila, eine Italienerin, die als Sozialarbeiterin bei der Stadt angestellt war. Soweit ich weiß, hat sie ebenfalls versucht, mit der Ausländerbehörde für unbegleitete Minderjährige zu reden, aber anscheinend gab es nicht einmal eine Besenkammer für mich. Also sagte Danila zu Payam: Bring ihn zu mir.
    Als wir uns trafen, erklärte mir Payam: Eine Familie nimmt dich bei sich auf.
    Eine Familie?, sagte ich. Was soll das heißen, eine Familie?
    Ein Vater, eine Mutter und Kinder.
    Ich will nicht zu einer Familie.
    Warum?
    Ich weiß nicht, wie ich mich da verhalten soll. Da gehe ich nicht hin.
    Warum? Wie sollst du dich da schon groß verhalten? Du musst nur nett sein.
    Dort störe ich bestimmt.
    Nein, glaub mir, ich kenne die Leute gut.
    Payam ließ nicht locker und redete sich heiser – so wie man das eben tut, wenn man jemanden gern hat oder sich für ihn verantwortlich fühlt. Er wollte absolut
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