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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile
Autoren: Fabio Geda
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nicht, denn sonst würde ich es von vornherein vermeiden, damit sich niemand über mich lustig machen kann. Einmal rief mich zum Beispiel die Lehrerin für Umwelt- und Gesundheitserziehung an die Tafel und fragte mich irgendwas mit Chemie und Mathe. Doch statt Zahlen standen Buchstaben da. Ich sagte, ich verstehe rein gar nichts. Sie erklärte es mir, aber ich sagte erneut, dass ich kein Wort davon verstehe.
    Daraufhin wollte sie wissen, welche Schule ich besucht habe.
    Ich sagte, ich habe keine Schule besucht.
    Wie bitte?, erwiderte sie.
    Ich sagte, dass ich ein halbes Jahr auf eine italienische Schule gegangen sei und dort den Hauptschulabschluss gemacht habe.
    Und davor?, fragte sie.
    Ich erklärte ihr, dass ich davor gar nichts gemacht habe. Dass ich zwar in meinem Dorf in Afghanistan zur Schule gegangen sei, bei meinem Lehrer, der nicht mehr lebte, mehr aber auch nicht.
    Da regte sie sich sehr auf und ging zum Direktor, um sich zu beschweren. Ich hatte schon Angst, von der Schule zu fliegen, was wirklich eine Katastrophe gewesen wäre. Zum Glück schaltete sich ein anderer Lehrer ein und meinte, man müsse Geduld mit mir haben und einen Schritt nach dem anderen machen. Gesundheitserziehung und Psychologie könnten warten, dafür würden wir uns auf die anderen Fächer konzentrieren. Und da es an meiner Schule einen Jungen mit einer leichten Behinderung gab, der einen Hilfslehrer hatte, konnte ich ein paar Monate mit ihm lernen.
    Ich weiß noch, dass ich mich im ersten Jahr sehr unwohl in meiner Klasse fühlte, weil ich so gern zur Schule ging. Für mich war das ein Privileg. Ich lernte wie ein Wahnsinniger, und wenn ich eine schlechte Note bekam, ging ich sofort zum Lehrer und fragte, wie ich die wieder ausbügeln könne. Den anderen ging das unglaublich auf die Nerven, und selbst die Jüngeren beschimpften mich als Streber.
    Mit der Zeit wurde es besser. Ich schloss Freundschaften. Ich lernte, vieles mit anderen Augen zu sehen, so wie wenn man sich eine Brille mit getönten Gläsern aufsetzt. In Gesundheitserziehung staunte ich über das, was ich hörte, weil ich es mit meiner Vergangenheit verglich. Mit den Umständen, unter denen ich gelebt, und mit dem Essen, das ich damals gegessen hatte. Ich fragte mich, wie es sein konnte, dass ich überhaupt noch am Leben war.
    Ich hatte mein zweites Jahr an der Fachoberschule beinahe hinter mir, als ich einen Brief bekam. Darin stand, dass ich mich in Rom bei jener Kommission vorstellen müsse, die über meine Anerkennung als politisch Verfolgter und meine Aufenthaltsgenehmigung entscheiden würde. Ich hatte dieses Schreiben bereits erwartet, weil ich in Turin einen afghanischen Jungen kennengelernt hatte, der kurz vor mir nach Italien gekommen war und ein ganz ähnliches Schicksal hatte. Alles, was ihm passierte, passierte früher oder später auch mir. Er hatte den Brief schon mehrere Monate vor mir bekommen, war nach Rom gefahren und hatte sich bei der Kommission vorgestellt. Die hatte entschieden, dass er kein politisch Verfolgter sei. Ich weiß noch, wie verzweifelt er nach seiner Rückkehr gewesen war. Ich konnte das einfach nicht verstehen: Warum hatte man ihm diesen Status verwehrt? Ich weiß noch, wie mein Freund die Hände vors Gesicht schlug und schluchzte, ohne dass Tränen kamen. Seine Schultern bebten: Wo soll ich denn jetzt hin?
    Und so setzte ich mich eines Tages mit Marco und Danila in den Zug und fuhr dieselbe Strecke, die ich von Rom nach Turin genommen hatte, nur in entgegengesetzter Richtung. Wir meldeten uns pünktlich bei der Behörde, in einem Viertel, dessen Name mir jetzt nicht mehr einfällt, und mussten eine Zeit lang warten. Dann wurde mein Name aufgerufen, der laut durch den Flur hallte. Marco und Danila blieben sitzen, während ich den Raum betrat.
    Setz dich, sagten sie.
    Ich setzte mich.
    Das ist dein Dolmetscher, sagten sie und zeigten auf einen jungen Mann neben der Tür.
    Ich bedankte mich, sagte aber, dass ich auf ihn verzichten könne.
    Du sprichst also gut Italienisch, sagten sie.
    Ja, ich spreche ganz ordentlich, erwiderte ich. Aber das war noch nicht alles: Wenn man sich direkt miteinander unterhält, ist das viel emotionaler, auch wenn man nicht immer die richtigen Worte findet oder die Betonung falsch ist. Auf jeden Fall hat das, was man selbst sagt, mehr mit dem zu tun, was man eigentlich gemeint hat, als wenn es ein Dolmetscher sagt. Denn aus dem Mund eines Dolmetschers kommen keine Gefühle, sondern nur Wörter. Wir haben
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