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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile
Autoren: Fabio Geda
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mitbekomme. Darüber hatte ich mich gewundert, schließlich musste auch er hin und wieder schlafen.
    Die Sonne teilte den Eingang zum Samavat Qgazi in zwei Hälften. In Pakistan heißen solche Herbergen auch Hotel, obwohl sie keinerlei Ähnlichkeit mit hiesigen Hotels haben. Das Samavat Qgazi war weniger ein Hotel als ein Aufbewahrungsort für Körper und Seelen. Ein Aufbewahrungsort, an dem man eng zusammengepfercht darauf wartet, zu Paketen verschnürt und in den Iran, nach Afghanistan oder sonst wohin verschickt zu werden. Ein Ort, an dem man Kontakt zu Schleppern aufnimmt.
    Wir waren drei Tage im Samavat geblieben, ohne ihn ein einziges Mal zu verlassen: Während ich spielte, unterhielt sich meine Mutter mit anderen Müttern oder ganzen Familien, mit Leuten, denen sie zu trauen schien.
    Ich weiß noch, dass meine Mutter in Quetta die Burka getragen hat. Bei uns zu Hause in Nawa trug sie sie nie, ich wusste nicht einmal, dass sie eine besaß. Als sie die Burka an der Grenze zum ersten Mal anzog und ich sie nach dem Grund dafür fragte, antwortete sie lachend: Es ist ein Spiel, Enaiat, kriech drunter!
    Daraufhin hob sie einen Zipfel ihres Gewands, und ich tauchte unter den blauen Stoff, als spränge ich in ein Schwimmbecken. Ich hielt die Luft an, aber ohne zu schwimmen.
    Wegen des grellen Lichts legte ich meine Hand schützend vor die Augen, näherte mich Onkel Rahim, dem Besitzer, und entschuldigte mich für die Störung. Ich fragte nach meiner Mutter, erkundigte mich, ob er sie hatte fortgehen sehen, schließlich kam hier niemand rein oder raus, ohne dass er es bemerkte.
    Onkel Rahim las gerade Zeitung. Es war eine englische Zeitung mit roten und schwarzen Buchstaben, ganz ohne Bilder. Er rauchte eine Zigarette. Er hatte lange Wimpern und Wangen, die mit einem Flaum bedeckt waren wie manche Pfirsiche. Auf dem Tisch im Eingangsbereich stand ein Teller mit Aprikosen, drei prallen, orangefarbenen Früchten und einer Handvoll Maulbeeren. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass es in Quetta jede Menge Früchte gibt. Auf diese Weise wollte sie mich dafür begeistern, denn ich liebe Früchte. Quetta heißt auf Paschtu »befestigtes Handelszentrum« oder so was Ähnliches. Es ist also ein Umschlagplatz, an dem mit Waren, Menschenleben und vielem mehr gehandelt wird. Quetta ist die Hauptstadt von Belutschistan, dem Obstgarten Pakistans.
    Ohne aufzublicken, pustete Onkel Rahim den Rauch in Richtung Sonne und sagte: Ja, ich habe sie gesehen.
    Ich war froh. Wo ist sie hingegangen, Onkel Rahim?
    Fort.
    Fort, wohin?
    Fort.
    Wann kommt sie wieder?
    Sie kommt nicht wieder.
    Sie kommt nicht wieder?
    Nein.
    Wie, sie kommt nicht wieder? Onkel Rahim, was soll das heißen, sie kommt nicht wieder?
    Sie kommt nicht wieder.
    Da war ich sprachlos. Vielleicht hätte ich noch andere Fragen stellen sollen, aber mir fielen keine ein. Ich schwieg und starrte den Flaum auf den Wangen des Samavat-Besitzers an, allerdings, ohne ihn wirklich wahrzunehmen.
    Dann sagte er doch noch was. Sie lässt dir etwas ausrichten.
    Was denn?
    Khoda negahdar.
    Sonst nichts?
    Doch, noch etwas.
    Was denn, Onkel Rahim?
    Dass du die drei Dinge, die sie dir verboten hat, niemals tun darfst.
    Ich werde meine Mutter Mama nennen, meinen Bruder Bruder und meine Schwester Schwester . Nur das Dorf, in dem wir wohnten, werde ich nicht Dorf nennen, sondern Nawa, ganz einfach, weil es so heißt. Sein Name bedeutet »Rinne«, weil es in einem Tal liegt, das von zwei Bergket ten umgeben ist. Als Mama eines Abends, als ich vom Spielen auf den Feldern zurückkam, sagte, mach dich fertig, wir müssen los, und ich fragte, wohin, worauf sie antwortete, wir verlassen Afghanistan, dachte ich, dass wir einfach nur die Berge überqueren würden. Für mich war Afghanistan bloß dieses Tal mit den Bächen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie groß es wirklich ist.
    Wir nahmen einen Stoffbeutel, packten Kleider zum Wechseln und etwas zu essen ein: Brot und Datteln. Ich war völlig aus dem Häuschen wegen der bevorstehenden Reise. Am liebsten wäre ich zu den anderen gerannt und hätte ihnen alles erzählt, aber meine Mutter verbot es mir. Sie befahl mir, auf sie zu hören und keinen Lärm zu machen. Meine Tante, die Schwester meiner Mutter, kam vorbei, und sie unterhielten sich ein Stück weit von mir entfernt. Dann tauchte ein Mann auf, ein alter Freund meines Vaters, der nicht ins Haus kommen wollte. Er meinte, wir müssten los, der Mond sei noch nicht aufgegangen, und die
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