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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile
Autoren: Fabio Geda
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Dunkelheit sei Sand in den Augen der Taliban.
    Kommen mein Bruder und meine Schwester nicht mit, Mama?
    Nein, sie bleiben bei der Tante.
    Mein Bruder ist noch klein, er will nicht bei der Tante bleiben.
    Deine Schwester wird sich um ihn kümmern. Sie ist beinahe vierzehn und schon eine richtige Frau.
    Und wir, wann kommen wir zurück?
    Bald.
    Wann bald?
    Bald.
    Ich muss zum Buzul-bazi , zum Würfelturnier.
    Hast du die Sterne gesehen, Enaiat?
    Was haben die Sterne damit zu tun?
    Zähle sie, Enaiat.
    Das geht nicht, es sind zu viele.
    Dann fang wenigstens damit an, sagte meine Mutter. Sonst wirst du niemals fertig.
    Der Bezirk Jaghori, in dem wir lebten, ist nur von Ha zara bevölkert, also von Afghanen wie uns. Wir haben mandelförmige Augen und eine platte Nase. Na ja, ganz platt ist sie auch nicht, nur ein bisschen platter als normal. Mit anderen Worten, wir haben mongolische Züge. Angeb lich stammen wir von den Soldaten des Dschingis Khan ab. Andere behaupten, dass unsere Vorfahren Kuschanen waren. Das sind die Ureinwohner jener Gegend, die legendären Erbauer der Buddhastatuen von Bamiyan. Wieder andere behaupten, dass wir Sklaven sind und wie Sklaven behandelt werden müssen.
    Für uns war es extrem gefährlich, diesen Bezirk oder die Provinz Ghazni zu verlassen (und ich benutze die Vergangenheitsform nur, weil ich nicht weiß, wie es heute ist, obwohl ich nicht glaube, dass sich die Lage groß geändert hat). Denn wenn man Taliban oder Paschtunen begeg nete – die zwar nicht ein und dasselbe sind, aber beide nur Leid über unser Volk gebracht haben –, musste man äußerst vorsichtig sein. Deshalb brachen wir nachts auf: meine Mutter, ich und der Mann, den ich einfachheitshalber nur Mann nennen werde, und den meine Mutter gebeten hatte, uns zu begleiten. Wir marschierten los und gelangten im Schutz der Dunkelheit, aber bei Sternenlicht – das in einer Gegend ohne Elektrizität wirklich hell ist – in drei Nächten bis nach Kandahar.
    Ich trug wie immer meinen grauen Pirhan , weite Baum wollhosen und eine lange, bis zu den Knien reichende Jacke aus demselben Material. Mama war im Tschador unterwegs, hatte aber eine Burka dabei, die sie anzog, sobald wir anderen Leuten begegneten – ein idealer Trick, um zu verbergen, dass sie eine Hazara war, und um mich zu verstecken.
    Am ersten Tag ruhten wir uns bei Sonnenaufgang in einer Karawanserei aus, die, wie man an den vergitterten Fenstern sah, von den Taliban oder wem auch immer als Gefängnis genutzt wurde. Zum Glück war niemand da, aber ich langweilte mich, also zielte ich mit Steinen auf eine an einem Mast befestigte Glocke. Ich versuchte, sie aus einer Entfernung von hundert Schritt zu treffen. Schließlich gelang es mir, doch sofort kam der Mann auf mich zu gerannt, packte mich am Handgelenk und befahl mir, damit aufzuhören.
    Am zweiten Tag sahen wir, wie ein Raubvogel über einem Esel kreiste. Der Esel war natürlich tot, seine Beine waren zwischen zwei Felsen eingeklemmt. Für uns war er völlig wertlos, weil wir ihn nicht essen konnten. Ich weiß noch, dass wir ganz in der Nähe von Schajoi waren, für Hazara der gefährlichste Ort Afghanistans. Es hieß, die Taliban würden durchreisende Hazara gefangen nehmen, bei lebendigem Leib in tiefe Brunnen stoßen oder den wilden Hunden zum Fraß vorwerfen. Neunzehn Männer aus meinem Dorf waren auf dem Weg nach Pakistan verschwunden. Der Bruder eines dieser Männer war losgezogen, um nach ihnen zu suchen. Er war es auch, der uns das mit den wilden Hunden erzählt hatte. Von seinem Bruder fand er nur noch die Kleider und in den Kleidern seine Knochen.
    So ist das bei uns.
    Es gibt ein Sprichwort bei den Taliban: Den Tadschiken Tadschikistan, den Usbeken Usbekistan, den Hazara Goristan. Gor bedeutet Grab.
    Am dritten Tag begegneten wir vielen Leuten, die wer weiß wohin unterwegs und wer weiß wovor auf der Flucht waren: Es war eine ganze Karawane aus Lastwagen voller Männer, Frauen, Kinder, Hühner, Stoffballen und Wasserkanister.
    Wenn Lastwagen kamen, die in unsere Richtung fuhren, baten wir die Fahrer, uns ein Stück mitzunehmen, wenigstens ein kleines Stück. Waren sie nett, hielten sie an und ließen uns einsteigen. Waren sie dagegen wütend auf sich und die Welt, gaben sie Gas und fuhren weiter, wobei sie uns völlig einstaubten. Sobald wir Motorenlärm hinter uns hörten, versteckten Mama und ich uns so schnell wie möglich in einem Graben, zwischen Sträuchern oder hinter Felsen, falls es welche gab.
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