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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile
Autoren: Fabio Geda
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und kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten, die dringender zu sein schienen als das Schicksal eines verlassenen Kindes. Ich konnte sie weder etwas fragen noch mit ihnen plaudern oder scherzen. Ich konnte sie auch um nichts bitten. Darum, mich nach Hause zu bringen, zum Beispiel, oder um eine Tasse Joghurt oder ein Stück Gurke. Wenn man irgendwo fremd ist (was auffällt, sobald man den Mund aufmacht und die erste Frage stellt), ja wenn man nicht weiß, wo man ist und wie man sich dort zu verhalten hat – nun, dann wird man schnell ausgenutzt.
    Und wenn ich etwas unbedingt vermeiden wollte (außer zu sterben natürlich), dann, ausgenutzt zu werden, egal, auf welche Weise.
    Ich kroch hinter den Kissen hervor, hinter denen ich mich verschanzt hatte, und suchte nach Onkel Rahim. Ich fragte, ob ich bei ihm arbeiten könne. Ich würde alles tun, angefangen vom Bodenwischen bis hin zum Schuheputzen, egal, was. Nicht zuletzt, weil ich, ehrlich gesagt, eine Riesenangst davor hatte, den Samavat zu verlassen. Denn wer weiß, was dort draußen auf mich wartete.
    Er hörte mich sehr wohl, tat aber so, als verstünde er mich nicht. Dann sagte er: Aber nur heute.
    Nur heute? Und morgen?
    Morgen musst du dir eine andere Unterkunft suchen.
    Nur einen Tag. Ich betrachtete seine langen Wimpern, den Flaum auf seinen Wangen, die Zigarette zwischen den Lippen, von der Asche fiel, seine Pantoffeln und seinen weißen Pirhan . Am liebsten hätte ich mich an ihn, an seine Jacke geklammert und geweint, bis mir die Lunge und ihm das Trommelfell geplatzt wäre. Aber ich glaube, es war gut, dass ich nichts dergleichen tat. Stattdessen bedankte ich mich mehrfach für seine Großzügigkeit und fragte ihn, ob ich eine Kartoffel und eine Zwiebel aus der Küche haben könne. Er erlaubte es mir, woraufhin ich Tashakor sagte, was »danke« bedeutet.
    Ich schlief mit angezogenen Knien.
    Mein Körper schlief, aber mein Geist war wach. In meinem Traum lief ich durch die Wüste.
    Am nächsten Morgen wachte ich ganz nervös auf, weil ich den Samavat verlassen und hinaus auf die Straße musste. Die Straße hatte mir beim Blick aus dem Tor oder aus den Badezimmerfenstern im ersten Stock kein bisschen gefallen. Sie war stark von Motorrädern und Autos befahren, und der Abwasserkanal floss stinkend zwischen Fahrbahn und Gehsteig, nur wenige Meter vom Eingangstor des Samavat entfernt.
    Ich ging ins Bad, trank etwas Wasser und wusch mir das Gesicht, um mir Mut zu machen, bevor ich mich in das Chaos stürzte. Ich verabschiedete mich von Onkel Rahim.
    Er sah mich an, ohne mich anzusehen. Wohin gehst du?, fragte er.
    Ich gehe fort, Onkel Rahim.
    Wohin?
    Ich zuckte die Achseln und sagte: Keine Ahnung, ich kenne die Stadt nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich mich nach rechts oder nach links wenden soll. Also werde ich die Straße soweit wie möglich hinuntersehen und mich für die Richtung mit der schöneren Aussicht entscheiden.
    In Quetta gibt es keine schöne Aussicht, nur Häuser.
    Das dachte ich mir bereits, Onkel.
    Ich habe es mir anders überlegt.
    Was?
    Ich kann dich nicht bezahlen, wenn du für mich arbeitest, zumindest nicht mit Geld. Ihr seid einfach zu viele, und ich kann nicht allen Arbeit geben. Aber du bist gut erzogen. Wenn du willst, darfst du hierbleiben, gegen Kost und Logis – so lange, bis du eine Arbeit gefunden hast, mit der du Geld verdienst. Aber bis es soweit ist, musst du für mich arbeiten, und zwar gleich nach dem Aufstehen bis zum Schlafengehen. Egal, was ich von dir verlange. Verstanden?
    Ich schenkte ihm mein breitestes Lächeln. Mögest du so lange leben wie die Bäume, Onkel Rahim.
    Khoda kana , hoffentlich, erwiderte er.
    Obwohl ich glücklich und erleichtert war, muss ich doch sagen, dass mein erster Arbeitstag im Samavat in Quetta die Hölle war: Erstens sollte ich sofort einen Haufen Dinge erledigen. Zweitens hat mir niemand irgendwas erklärt, so als wüsste ich bereits alles. Dabei wusste ich nicht das Geringste und schon gar nicht, was man von mir wollte. Drittens kannte ich niemanden und wagte es nicht, mit Unbekannten zu reden, zumal ich viertens ihre Sprache kaum beherrschte. Fünftens nahm die Arbeit kein Ende, so dass ich mich fragte, wo eigentlich der Mond blieb, den ich nicht aufgehen sah. Vielleicht gab es in Quetta gar keinen Mond. Oder nur einen, der hin und wieder aufgeht, wenn es die Herrschaften wünschen, damit die einfachen Leute mehr arbeiten müssen.
    Als ich mich abends schlafen legte, war ich mehr
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