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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile
Autoren: Fabio Geda
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wartete, bis Pause war.
    Ich mochte es, wenn sich beim Gong die Türen öffneten und die Kinder laut schreiend hinausrannten, um im Hof zu spielen. Insgeheim fiel ich in ihre Schreie mit ein und rief nach meinen Freunden aus Nawa. Ich sagte ihre Namen, trat nach dem Ball und behauptete, jemand hätte die Drachenschnur durch ein verbotenes Manöver reißen lassen. Oder aber ich machte ihnen weis, der Ziegenknochen für das Buzul-bazi koche noch im Eintopf mit. Den alten hätte ich verloren, so dass ich diesmal nicht mitspielen könne. Ich lief bewusst langsam, um ihnen so lang wie möglich zuzuhören. Wenn mich Onkel Rahim in Bewegung sähe, so dachte ich, würde er sich nicht so aufregen, als wenn er mich beim Herumstehen erwischte.
    An manchen Tagen trug ich den Chai schon etwas früher aus und sah zu, wie die Schüler sauber, ordentlich und gut gekämmt das Gebäude betraten. In solchen Momenten hasste ich sie und musste mich abwenden. Doch wenn sie später Pause hatten, wollte ich wieder ihre Stimmen hören.
    Warum konntest du ihnen zuhören, sie aber nicht ansehen, Enaiat?
    Hören ist etwas anderes als Sehen. Es ist nicht so schmerzhaft. Es lässt der Fantasie mehr Raum. Dein Balkon geht auf den Hof einer Grundschule hinaus, nicht wahr?
    Ja.
    Bleibst du manchmal stehen und siehst zu, wie die Eltern ihre Kinder abholen? Die Schüler strömen nach dem Gong ins Freie, bleiben brav am Tor stehen, stellen sich auf die Zehenspitzen und suchen nach ihren Eltern. Und wenn sie sie gefunden haben, winken sie, spreizen die Finger, reißen Augen und Mund auf, weiten die Brust. Alles atmet in diesem Moment, auch die Bäume und Häuser. Dann kommen die Fragen nach dem Tag, den Hausaufgaben, dem Schwimmbad. Mütter stecken Hemden zurück in den Hosenbund und rücken Baseballmützen zurecht. Und am Ende sitzen alle zusammen mit ihren Freunden im Auto, und es geht ab nach Hause. Bleibst du manchmal stehen und siehst ihnen zu?
    Manchmal, ja.
    Mir fällt das heute noch schwer.
    Ich besaß zwei Pirhan . Wenn ich den einen wusch, trug ich den anderen und hängte den nassen zum Trocknen auf. Sobald er trocken war, kam er in ein Stoffsäckchen, das ich in einer Zimmerecke, unweit meiner Matratze, aufbewahrte. Jeden Abend kontrollierte ich, ob es noch da war.
    Nachdem mehrere Tage, Wochen, Monate vergangen waren, merkte Onkel Rahim, dass ich ein guter Junge war (und ich sage das nicht aus Selbstlob!). Dass ich gut darin war, Chai auszutragen, und weder die Gläser noch die Zuckerschale aus Ton fallen ließ. Ich machte auch sonst keinen Unsinn, wie das Tablett im Laden zu vergessen. Doch was noch wichtiger war: Ich brachte stets den korrekten Betrag zurück. Manchmal sogar etwas mehr.
    Es gab nämlich ein paar nette Ladenbesitzer – zu manchen ging ich täglich gegen zehn und dann noch mal nachmittags zwischen drei und vier –, und die gaben mir etwas Trinkgeld, das ich für mich behalten durfte. Aber damals wusste ich noch nicht, dass das erlaubt war, also lieferte ich es ab. Ich hatte schließlich bis dahin kaum mit Geld zu tun gehabt, und im Zweifelsfall brachte ich auch dieses Geld zu Onkel Rahim. Und das war auch besser so. Hätte ich mich verrechnet und mir mehr Geld genommen, als mir zustand, hätte Onkel Rahim vielleicht das Vertrauen verloren, und ich wollte nicht ohne ein Dach über dem Kopf dastehen und ohne die Möglichkeit, mir die Zähne zu putzen.
    Trotzdem.
    Eines Tages gab es einen Sandsturm, und einer der Ladenbesitzer – jener bereits erwähnte Sahib , der Sandalen oder Chaplai verkaufte, wie ich sie nenne, und der mich mochte – lud mich ein, mich kurz zu ihm zu setzen und etwas Chai mitzutrinken. Ich wusste nicht, ob das erlaubt war, aber da er mich darum bat, hätte ich es unhöflich gefunden abzulehnen. Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Boden, auf einen Teppich.
    Wie alt bist du, Enaiat?
    Das weiß ich nicht.
    So ungefähr.
    Elf.
    Inzwischen arbeitest du schon eine ganze Weile im Samavat, stimmt’s?
    Fast ein halbes Jahr, Sahib .
    Ein halbes Jahr, sagte er. Anschließend richtete er den Blick zum Himmel und dachte nach.
    Noch nie ist jemand so lange bei Rahim geblieben, sagte er. Das bedeutet, dass er zufrieden ist.
    Onkel Rahim sagt nie, dass er zufrieden mit mir ist.
    Affarin , sagte der Sahib . Gut gemacht! Wenn er sich nicht beschwert, Enaiat, heißt das, dass er mehr als nur zufrieden mit dir ist.
    Wenn Sie meinen, Sahib .
    Ich möchte dir eine Frage stellen, und du musst sie wahrheitsgemäß
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