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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile
Autoren: Fabio Geda
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wurde als ohnehin schon. Und einen großen Innenhof mit Apfel-, Kirsch-, Granatapfel-, Pfirsich-, Aprikosen– und Maulbeerbäumen. Die Mauern waren mehr als einen Meter dick und aus Lehm. Wir aßen selbst gemachten Joghurt, eine Art griechischen Joghurt, nur besser. Wir besaßen eine Kuh, zwei Schafe und die Felder, auf denen wir Getreide anbauten. Das brachten wir dann zur Mühle, wo es zu Mehl gemahlen wurde.
    Das war Nawa, und ich wollte nie von dort weg.
    Nicht einmal, als die Taliban meine Schule schlossen.
    Darf ich erzählen, wie die Taliban meine Schule geschlossen haben, Fabio?
    Natürlich.
    Interessiert dich das?
    Mich interessiert alles, Enaiatollah.
    Ich passte nicht besonders gut auf an jenem Morgen. Ich hörte dem Lehrer nur mit halbem Ohr zu und war mit meinen Gedanken beim Buzul-bazi -Turnier, das wir für den Nachmittag organisiert hatten. Buzul-bazi ist ein Spiel, das mit einem ausgekochten Schafsknochen gespielt wird. Der Knochen erinnert an einen Würfel, ist aber knubbeliger. Man spielt damit tatsächlich wie mit einem Würfel oder wie mit Murmeln. Bei uns wird ständig Buzul-bazi gespielt, zu jeder Jahreszeit, während wir im Frühling oder im Herbst eher Drachen bauen und im Winter Verstecken spielen. Wenn man sich eng aneinandergeschmiegt zwischen Getreidesäcken, einem Stapel Decken oder hinter einem Felsen versteckt, ist das bei der winterlichen Kälte durchaus angenehm.
    Der Lehrer erklärte die Zahlen und brachte uns gerade das Rechnen bei, als wir hörten, wie ein Motorrad die Schule umkreiste, so als suchte es den Eingang, obwohl der nicht schwer zu finden war. Der Motor wurde ausgestellt. Ein riesiger Mann erschien auf der Schwelle, mit einem langen Bart, wie ihn die Taliban haben. Wir Hazara könnten den Bart nie so tragen, weil wir eher an Chinesen oder Japaner erinnern und kaum Bartwuchs haben. Einmal hat mich ein Taliban geohrfeigt, angeblich weil ich keinen Bart trug. Aber ich war doch noch ein Kind!
    Der Taliban kam mit einem Gewehr ins Klassenzim mer und verkündete mit lauter Stimme, dass die Schule geschlossen würde. Der Lehrer wollte wissen, warum. Daraufhin sagte der Taliban: Das ist uns so befohlen worden, und ihr müsst gehorchen. Anschließend verschwand er, ohne auch nur eine Antwort abzuwarten.
    Der Lehrer schwieg. Er war wie erstarrt, wartete, bis das Motorengeräusch verklungen war und machte dann mit dem Mathematikunterricht weiter. Mit derselben ruhigen Stimme wie vorher und mit seinem schüchternen Lächeln. Mein Lehrer war nämlich ein wenig schüchtern. Er wurde niemals laut, und wenn er doch einmal schrie, tat es ihm fast mehr leid als uns.
    Am Tag darauf kehrte der Taliban zurück. Es war derselbe, mit demselben Motorrad. Er sah, dass wir im Klassenzimmer waren und dass uns der Lehrer unterrichtete. Er kam herein und fragte den Lehrer: Warum habt ihr die Schule nicht geschlossen?
    Weil es keinen Grund dafür gibt.
    Der Grund heißt Mullah Omar.
    Das ist kein ausreichender Grund.
    Du versündigst dich. Mullah Omar hat befohlen, die Schule zu schließen.
    Und wo sollen unsere Kinder dann zur Schule gehen?
    Sie werden gar nicht zur Schule gehen. Die Schule ist nichts für Hazara.
    Aber diese Schule schon.
    Diese Schule verstößt gegen den Willen Gottes.
    Diese Schule verstößt gegen euren Willen.
    Ihr unterrichtet Dinge, die Gott nicht genehm sind. Lügen. Dinge, die dem Wort Gottes widersprechen.
    Wir bringen den Kindern bei, gute Menschen zu sein.
    Was sind gute Menschen?
    Setzen wir uns doch hin und reden!
    Das bringt nichts. Ich verrate es dir: Ein guter Mensch ist, wer Gott dient. Wir wissen, was Gott von den Menschen verlangt und wie wir ihm dienen müssen. Ihr nicht.
    Wir lehren hier auch Demut.
    Der Taliban lief durch unsere Reihen, so schwer atmend wie ich, als ich mir einmal einen Kiesel in die Nase gesteckt hatte und ihn nicht mehr herausbekam. Dann verschwand er ohne ein weiteres Wort und stieg wieder auf sein Motorrad.
    Der dritte Vormittag danach war ein schöner Herbsttag, einer, an dem die Sonne noch so wärmt, dass der erste Schnee die Luft nicht abkühlt, sondern nur mit Schneeduft anreichert: der ideale Tag zum Drachensteigenlassen. Wir lernten gerade ein Gedicht auswendig, um uns auf den Poesiewettbewerb vorzubereiten, als zwei Jeeps mit Taliban vorfuhren. Wir rannten zu den Fenstern, um sie zu bestaunen. Alle Kinder der Schule schauten hinaus, obwohl sie Angst hatten. Etwa zwanzig oder dreißig Taliban sprangen von den Jeeps. Der Mann, den
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