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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile
Autoren: Fabio Geda
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Lastwagenfahrer gewesen.
    Nur dass man ihn dazu gezwungen hatte.
    Meinen Vater werde ich Vater nennen, obwohl er nicht mehr lebt. Weil er nicht mehr lebt. Und ich werde seine Geschichte erzählen, obwohl ich sie nur aus zweiter Hand kenne. Ich kann sie also nicht beschwören. Tatsache ist, dass die Paschtunen ihn – und nicht nur ihn, sondern auch viele andere Hazara aus unserer Provinz – gezwungen hatten, in den Iran zu fahren und dort Waren zu holen, die sie dann in ihren Geschäften verkauften: Besteck, Stoffe oder diese dünnen Schaumgummimatratzen. Und zwar deshalb, weil die Iraner wie wir Hazara Schiiten sind, während die Paschtunen Sunniten sind. Und unter Glaubensbrüdern handelt es sich bekanntlich besser. Außerdem sprechen die Paschtunen kein Persisch, während wir die Iraner ein bisschen verstehen können.
    Um ihn zu erpressen, drohten sie meinem Vater: Wenn du nicht in den Iran fährst und dort Waren für uns einkaufst, bringen wir deine Familie um. Wenn du mit der Ware durchbrennst, bringen wir deine Familie um. Wenn du mit zu wenig oder mit beschädigter Ware zurückkommst, bringen wir deine Familie um. Wenn du dich übers Ohr hauen lässt, bringen wir deine Familie um. Mit anderen Worten: Sobald etwas schiefgeht, bringen wir deine Familie um.
    Ich war ungefähr sechs Jahre alt, als mein Vater starb.
    Vermutlich wurde er in den Bergen von Banditen überfallen und getötet. Als die Paschtunen erfuhren, dass der Lastwagen meines Vaters überfallen und die Ware geraubt worden war, gingen sie zu meiner Familie und verlangten Schadensersatz. Ihre Ware wäre verschwunden, weshalb wir jetzt dafür aufkommen müssten.
    Zuerst gingen sie zu meinem Onkel, zum Bruder meines Vaters. Sie sagten, dass er jetzt die Verantwortung trage und etwas unternehmen müsse, um sie zu entschädigen. Mein Onkel versuchte eine Zeit lang, die Angelegenheit zu regeln. Er wollte Felder aufteilen oder verkaufen, allerdings ohne Erfolg. Eines Tages sagte er ihnen, dass er nicht wisse, wie er sie entschädigen solle. Außerdem gehe ihn das Ganze nichts an, er habe selbst eine Familie, die er ernähren müsse. Womit er im Grunde recht hatte, ich kann ihm da keinen Vorwurf machen.
    Also sind die Paschtunen eines Abends zu meiner Mutter gekommen: Wenn wir kein Geld hätten, würden sie eben mich und meinen Bruder als Sklaven mitnehmen, drohten sie – etwas, das überall auf der Welt verboten ist, auch in Afghanistan, aber so war es nun mal. Seitdem hatte meine Mutter keine ruhige Minute mehr. Sie befahl mir und meinem Bruder, draußen zu spielen, uns unter die anderen Kinder zu mischen. Denn als die Paschtunen uns zu Hause aufgesucht hatten, waren wir beide gar nicht da gewesen, so dass sie uns nicht wiedererkennen konnten.
    Daher spielten wir tagsüber immer draußen, was eigentlich kein Problem war. Die Paschtunen, denen wir im Dorf begegneten, liefen an uns vorbei, ohne uns zu erkennen. Für die Nacht hoben wir in der Nähe der Kartoffeln eine Grube aus, in der wir uns versteckten, wenn jemand klopfte, und zwar bevor meine Mutter die Tür aufmachte. Eine Strategie, die ich allerdings wenig überzeugend fand: Wenn die Paschtunen mitten in der Nacht kommen, um uns zu holen, sagte ich zu meiner Mutter, werden sie bestimmt nicht vorher anklopfen.
    So sah unser Leben aus, bis meine Mutter beschloss, mich fortzuschicken. Ich war ungefähr zehn Jahre alt und damit zu groß, um mich noch länger verstecken zu kön nen. In die Grube passte ich kaum noch, ja, ich drohte meinen Bruder regelrecht zu zerquetschen.
    Ich sollte also fort.
    Dabei wollte ich nie aus Nawa weg. Mein Dorf war wunderschön. Es gab keinen Strom. Um Licht zu machen, benutzten wir Petroleumlampen. Doch stattdessen gab es Äpfel. Ich konnte zusehen, wie das Obst wuchs: Die Blüten knospten vor meinen Augen und verwandelten sich in Früchte. Auch hier verwandeln sich Blüten in Früchte, aber man kann nicht dabei zusehen. Und dann die Sterne, jede Menge Sterne. Der Mond. Ich weiß noch, wie wir manchmal im Freien bei Mondschein aßen, um Petroleum zu sparen.
    Unser Haus sah folgendermaßen aus: Es gab einen Gemeinschaftsraum, in dem wir auch schliefen, ein Gästezimmer und eine Ecke mit Feuer- und Kochstelle. Diese lag etwas tiefer, so dass das Feuer im Winter dank eines ausgeklügelten Leitungssystems den Fußboden heizte. Im ersten Stock befand sich noch ein Raum für Vieh und Vorräte. Draußen gab es eine zweite Küche, damit es im Sommer nicht noch heißer im Haus
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