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Im Licht der roten Erde

Im Licht der roten Erde

Titel: Im Licht der roten Erde
Autoren: Di Morrissey
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sie die Augen, schlang die Arme um ihren Oberkörper und schaukelte sanft vor und zurück. »Ardjani hat mir davon erzählt. Er ist ein Stammesältester der Aborigines, ein Prophet, ein weiser Mann. Ich bin ihm hier in L.A. begegnet. Er hat mir vom Songmaster erzählt, dem Mann, der das
didgeridoo
spielt und die Lieder der Barradja singt. Ardjani sagt, der Songmaster singt die überlieferten Geschichten aus der Vergangenheit, die davon handeln, dass die Barradja die ersten Menschen auf diesem Planeten waren. Er kommt zu Ardjanis Stamm, erklärt die Gegenwart und sagt die Zukunft voraus.«
    »Wo haben Sie diesen Ardjani kennengelernt?«
    »Auf einer Benefizveranstaltung im Museum of Contemporary Art, bei einer Ausstellung über Aborigine-Kunst. Als ich Ardjani begegnete, wusste ich, dass ich ihm folgen musste … Mir war die Idee gekommen, einen Dokumentarfilm über ihn und seine Leute zu drehen. Doch etwas lief schief. Etwas Schlimmes ist passiert. Dabei hatte ich wirklich nichts Böses im Sinn.«
    »Was haben Sie denn getan? Was ist geschehen?«
    Sie gab keine Antwort, hörte aber auch nicht auf zu schaukeln.
    Doktor Silverstein starrte hinaus auf den verblassenden Himmel über der Stadt der Engel. Schließlich sagte er: »Ich kann nichts mehr für Sie tun. Ich glaube, Sie müssen nach Australien zurückkehren und diesen Ardjani fragen, ob er Ihnen helfen kann.«
     
     
     
    Der Kopf des Wachmanns sackte auf die Brust, als ihn die Müdigkeit übermannte. Mit einem Ruck riss er das Kinn hoch, die Augen nach wie vor geschlossen, doch wieder fiel sein Kopf nach vorn und blieb diesmal auf dem Kragen liegen. Er sank in tiefen Schlaf.
    Die schmale Gestalt einer jungen Frau, die leise durch den Bogengang zur Victorian Art Gallery mit den Ausstellungsstücken der Aborigines schlüpfte, bemerkte er nicht, vermutlich hätte er ihr ohnehin keine Aufmerksamkeit geschenkt.
    Gerade einmal achtzehn, in einem formlosen Hippiekleid über einem langärmeligen gestrickten Baumwolloberteil, das feine braune Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, ging sie an einem Schaukasten mit Beispielen für Weberei, Rindenmalerei, Holzschalen und Töpfen vorbei. Ihre weichen Sandalen machten keine Geräusche auf dem polierten Parkett, und während sie lief, hielt sie das Kind fest in den Armen, das sie in ein im Nacken verknotetes Tuch gewickelt hatte. Sie blickte auf das schlafende Baby herab – dunkle, gebogene Wimpern, ein Mund, so vollkommen geformt, dass sie nicht anders konnte, als ihren Kopf zu senken und mit den Lippen über die rosige Knospe zu streichen, die sich so geschickt und besitzergreifend um ihre Brustwarzen schloss.
    Sie kam an den zeitgenössischen Sammlungen vorbei, die ringsum an den Wänden hingen, Werke von Freddie Timms, Rover Thomas, Queenie McKenzie, Paddy Jaminji. Vor einer in Ockertönen gehaltenen Acrylzeichnung zweier sonderbarer Figuren auf Ingres-Papier blieb sie stehen.
Wandjina-Beobachtung. Rosie Kaminyarli
1983
stand mit Bleistift in einer Ecke. Die primitiven Gesichter, umgeben von einer Art Heiligenschein, mit riesigen Augen, doch ohne Münder, was ihnen beinahe etwas Außerirdisches verlieh, starrten sie an.
    Das Mädchen band das Tuch im Nacken auf. Obwohl sie selbst fast noch ein Kind war, war es unverkennbar mütterliche Fürsorge, mit der sie den Säugling hielt, welcher sich jetzt regte und wimmerte. Das leise Weinen ließ sie die Milch spüren, die sich schmerzhaft in ihren Brüsten staute. Das Baby wand sich in seiner engen Umhüllung, und sie ging mit ihm hinüber zu einer Wand mit Ausstellungsstücken, die einen Teil der kleinen Galerie verdeckte. Dort hockte sie sich auf den Fußboden und breitete das Tuch unter dem Säugling aus. Einen Augenblick verharrte sie und ließ das Kind an einem ihrer Fingerknöchel saugen. Eine kleine Hand schloss sich darum. Sie blickte auf die zarten Fingerchen mit den winzigen rosa Nägeln, die sich gerade erst gebildet hatten, und strich mit der Hand von dem flaumigen Babyköpfchen bis zu den vollkommenen Füßchen in dem Baumwolltuch.
    Das Tuch war von Hand bedruckt und zeigte ein kindliches Muster aus rundlichen Eulen mit abstehenden spitzen Federn. Kleine Strichmännchen in merkwürdiger Tracht waren zwischen den weißen Vögeln mit den Hakenschnäbeln auf dem rostroten Stoff verstreut.
    Das Mädchen stand auf, blickte auf das schläfrige Baby hinab und prägte sich jeden seiner Züge ein, als wolle sie sie in ihr Herz brennen. Dann drehte sie sich mit
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