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Im Land des weiten Himmels

Im Land des weiten Himmels

Titel: Im Land des weiten Himmels
Autoren: J Wolfe
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ihrer Freundin Carla von der folgenschweren Auseinandersetzung und der Zwangslage, in die Behringer sie gebracht hatte. »Er ist ein Gangster, Carla! Ein richtiger Gangster! Wenn ich ihn nicht loswerde, komme ich nie aus New York raus!«
    »Ihr hättet keine Schulden machen dürfen.«
    »Das weiß ich auch«, blaffte sie zurück. »Wir hatten eben nicht so viel Geld wie ihr und mussten einen Kredit aufnehmen. In der Broschüre, die wir von seiner Auswanderergesellschaft bekamen, klang auch alles ganz plausibel. Aber er hat meine Eltern betrogen, und jetzt will er mich wie eine Weihnachtsgans ausnehmen! Es sei denn … Aber das lasse ich nicht zu! Niemals!«
    »Und wenn du ihn anzeigst?«
    »Wie denn?« Auf der anderen Seite des Daches begann ein Baby zu weinen, und sie zwang sich, etwas leiser zu reden. »Ich hab doch keinen einzigen Beweis. Wie soll ich ihm denn nachweisen, dass er die Quittungen gestohlen und vernichtet hat? Die Polizei lacht mich aus, wenn ich so etwas behaupte.«
    Clara schwieg eine Weile. »Ich könnte dir was von meinen Ersparnissen leihen. Besonders viel habe ich nicht, und einen Teil brauche ich selbst, wenn ich in dem Verlagshaus anfange. Zwei Kleider, besser noch drei, und eine dieser schicken Blusen, die junge Frauen seit Neuestem in den Büros tragen.«
    »Und wenn sie sich einen Millionär von der Fifth Avenue angeln.« Hannah konnte schon wieder lachen. »Nein, Carla. Ich brauche dein Geld nicht. Ich komme schon irgendwie klar. Vielleicht zahlt mir die Fabrik etwas mehr Lohn … oder Henry Smith. Henry ist nicht so schlimm, wie er manchmal tut.«
    »Du hast recht«, sagte Clara. »Das wird schon wieder. So viel Pech hat man nur einmal. Versteck die Quittungen irgendwo, wo er sie nicht finden kann, gib sie meinetwegen mir, dann bist du in anderthalb Jahren aus dem Schneider. Und eine neue Wohnung findest du auch. Vier oder fünf Blocks weiter nördlich bauen sie neue Häuser, da ist bestimmt was dabei!«
    »Anderthalb Jahre«, seufzte Hannah. »So lange kann ich nicht warten.«
    »Vielleicht passiert ja ein Wunder.«
    Hannah glaubte nicht an Wunder, zweifelte sogar an den wundersamen Fähigkeiten, die Jesus in der Bibel zugeschrieben wurden, und stellte sich auf eine lange Leidenszeit ein. Sie würde sich mit ihrem Schicksal arrangieren, irgendwie ihre Miete und ihre Schulden bezahlen, auch wenn sie noch eine dritte Arbeit am Sonntag annehmen musste, und spätestens in anderthalb Jahren von Behringer loskommen. Es gab etliche Einwanderer in New York, die wesentlich schlimmer dran waren als sie. Die in noch schäbigeren Unterkünften in den heruntergekommenen Mietshäusern der Lower East Side wohnten, keine Arbeit hatten oder zu krank und alt zum Geldverdienen waren und von noch rücksichtsloseren Vermietern auf die Straße gesetzt wurden, sobald sie mit der Miete im Rückstand waren. In dunklen Gassen und Hauseingängen vegetierten sie dahin und lebten von den Almosen, die ihnen gnädige Spaziergänger in die Sammelbüchsen warfen. Sie dagegen war jung und gesund und stark genug, um auch in schlechten Zeiten wie diesen überleben zu können.
    Dass das Schicksal tatsächlich ausgerechnet für sie ein Wunder bereithielt, konnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Vier Wochen waren seit ihrer Auseinandersetzung mit Wilhelm Behringer vergangen, als sie wenige Minuten vor dem Schichtwechsel in der Nähfabrik vom Schichtleiter in sein Büro gerufen wurde. Der penible Mr Gottfried rief einen nur, wenn man einen Fehler gemacht hatte und gerügt oder sogar gekündigt wurde, und die mitleidigen Blicke ihrer Kolleginnen begleiteten sie in den Flur. Sie klopfte an die verschlossene Tür, wartete auf das »Herein!« des Mannes und trat ein. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen und blickte ihm furchtlos in die Augen. »Ja?«
    »Miss Stocker? Miss Hannah Stocker?«
    »Ja, Sir.«
    »Ihre Mutter hat bei uns gearbeitet, nicht wahr?«
    »Elisabeth Stocker, ja. Sie ist vor einigen Wochen gestorben.
    »Ich weiß.« Er zog einen dicken Brief aus einem Fach seines Schreibtischs. »Wir müssen uns bei Ihnen entschuldigen, Miss Stocker. Dieser Brief ist schon vor drei oder vier Wochen bei uns eingetroffen. Er ist an Ihre Mutter adressiert. Anscheinend kannte der Absender, ein gewisser Leopold Stocker, Ihre Privatadresse nicht. Normalerweise nehmen wir keine Briefe an Angestellte an, aber hier haben wir wohl eine Ausnahme gemacht, weil es sich offensichtlich um Verwandtschaft handelt. Leider hatte meine
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