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Im Land des weiten Himmels

Im Land des weiten Himmels

Titel: Im Land des weiten Himmels
Autoren: J Wolfe
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man sich, und hatten ihre Einsamkeit in der großen Stadt gegen endlose Qualen unter der Knute eines grausamen Mannes eingetauscht. Nur über meine Leiche, dachte sie. Sie würde einen Mann heiraten, den sie wirklich liebte. Eine Wahl, die man ihrer Mutter nicht gestattet hatte. Wie es in der alten Heimat üblich war, hatten die Eltern ihres Mannes die Hochzeit arrangiert. Sie waren einander immer fremd geblieben, das hatte Hannah schon als Kind beobachtet, und es war nur wenig Zärtlichkeit zwischen ihnen gewesen. Immerhin hatte Hannahs Mutter ihren Mann gemocht und war fest entschlossen gewesen, eine Zukunft mit ihm aufzubauen, schon ihrer Tochter wegen, aber wirkliche Leidenschaft war ihnen fremd geblieben.
    Sie ging zum Kleiderschrank und kramte zwei Umschläge zwischen ihrem Pullover und den beiden Blusen hervor. In dem einen waren ihre ganzen Ersparnisse, sechzehn Dollar und zwei Cent, in dem anderen die unterschriebenen Quittungen ihres Vermieters. Sie hielt die Zettel ins Mondlicht und zählte sie sorgfältig durch. Noch ein Jahr und zwei Monate, dann wären ihre Schulden beglichen. Eine halbe Ewigkeit, wenn die Zinsen weiter stiegen und er sich ständig neue Schikanen ausdachte. Einem Mann wie ihm war alles zuzutrauen. Einen wesentlich geringeren Betrag schuldete sie der Nähfabrik, aber auch dort würde es noch ein halbes Jahr dauern, bis sie wieder in den schwarzen Zahlen war.
    Sie verschloss die Umschläge sorgfältig und schob sie zwischen den Pullover und die Blusen zurück. Viel würde sie nicht mehr sparen können. »Nach New York zu kommen ist einfach«, hatte einst ein irischer Einwanderer gesagt, »die große Kunst besteht darin, die Stadt zu verlassen .«
    Sonntags hatte sie wenigstens tagsüber frei. Am Abend musste sie in Henry’s Café sein. Sie ging morgens zur Kirche und verbrachte, wenn das Wetter schön war, den Rest des Tages im nahen Central Park, setzte sich zwischen den Bäumen auf die Wiese und bildete sich ein, sich irgendwo in der freien Natur aufzuhalten, meilenweit entfernt vom Lärm und Schmutz dieser Großstadt. Wenige Minuten nur, ebenso kostbar wie die Unterhaltungen mit Carla auf dem Dach und doch nur ein flüchtiger Augenblick, der meist damit endete, dass sie von schreienden Kindern oder Football spielenden Jugendlichen umgeben war. Wirkliche Ruhe gab es nicht in New York. Die Stadt war laut, hässlich und unnachgiebig, und wer von der Energie und Lebenslust schwärmte, die sie angeblich auf ihre Bewohner übertrug, war entweder in einer reichen Familie aufgewachsen oder ein Gangster.
    An diesem Sonntag ging Hannah überhaupt nicht in den Park. Nach der Kirche führte ihr Weg sie direkt in ihre Wohnung. Sie wollte dort sein, falls Behringer tatsächlich auf ihren Vorschlag einging und am späten Morgen bei ihr auftauchte. Wenn er nüchtern war, würde sie an seine Vernunft appellieren und versuchen, ihm die Zinserhöhung auszureden, aber ihre Hoffnung, ihn umzustimmen, war nicht groß. Wilhelm Behringer gehörte nicht zu den Männern, die Mitleid oder Verständnis für ihre Mitmenschen zeigten. Ihn interessierte nur Profit. Man sagte ihm sogar nach, dass er mit einem der berüchtigten Gangster aus der Lower East Side in Verbindung stand. Sie würde ihm die zehn Dollar geben, wenn es nicht anders ging, und auf den letzten Funken Anstand bauen, der noch in ihm war. Die Vorstellung, von ihm berührt, geküsst oder mit Gewalt genommen zu werden, ging über ihre Kräfte.
    Umso größer war ihr Entsetzen, als sie ihn auf ihrem Bett sitzend vorfand. Vor Schreck ließ sie beinahe ihre Handtasche fallen. »Mr Behringer!«, rief sie entsetzt. »Wie … Wie kommen Sie in meine Wohnung?«
    » Meine Wohnung«, betonte er lächelnd. Entweder war er auch in der Kirche gewesen, oder er war in der vergangenen Nacht nicht zu Hause gewesen, denn er trug Abendgarderobe: einen gestreiften Anzug und einen modischen Strohhut, die gediegene Kleidung eines wohlhabenden Mannes, der sich an die Gepflogenheiten seiner neuen Heimat hielt. Lediglich die rote Nelke im Knopfloch seines Jackenaufschlags wirkte deplatziert. Er schien nüchtern zu sein. »Diesmal habe ich den Schlüssel dabei. Sie sind mir doch nicht böse, dass ich ohne Ankündigung bei Ihnen eingedrungen bin?« Ein arrogantes Grinsen begleitete seine Worte.
    Hannah ließ die Tür halb offen stehen, um notfalls rasch fliehen zu können, und stellte ihre Tasche auf den Tisch. »Ich nehme an, Sie wollen sich bei mir entschuldigen«, begann
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