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Im Land der Regenbogenschlange

Im Land der Regenbogenschlange

Titel: Im Land der Regenbogenschlange
Autoren: Altmann Andreas
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Reisende wohl öfters, begegnen. Irgendwann, irgendwo, bisweilen.
    Das Lied ist ein Meisterwerk, in dem der Text und die Melodie, die jedesmal ein Herzflimmern auslöst, fugenlos zusammenpassen. Jeder Buchstabe fügt sich zu jedem Ton. In den fünf Minuten und zwei Sekunden wird von Blicken erzählt, die nicht hochmütig sind, nicht schlingernd, nicht gierig, nicht Bewunderung fordernd. Eben jene Bruchteile von Zeit, in denen ein Mann an dem Gesicht einer Frau vorbeigeht, die an einem Fenster steht, am Fuß einer Treppe, auf der anderen Straßenseite. Nur dieser kurze intensive Moment, nur dieser eine kurze Blick in ihre Augen, dann verschwinden sie, verschwinden aus dem Leben des Mannes.
    Und er rennt nicht hinterher, sucht sie nicht. Aus vielen Gründen. Aus Mutlosigkeit, weil jene Frau kein Sehnen nach Nähe signalisierte, weil ein Zug wartet, ein Flugzeug. Beide werden den Blick vergessen, normalerweise. Ein paar sinnliche Gedanken werden, vielleicht, die nächsten Tage (und Nächte) zu ihm zurückkehren. Dann ist er weg. Entsorgt wie so vieles, von dem man nur blitzhaft erfuhr.
    Doch in den letzten Strophen kommt die Moral des Chansons zu Wort, leise Moral, eher poetisch: »Mais si l'on a manqué sa vie«, aber – so beginnt sie – wenn man sein Leben vertan hat, genauer übersetzt, wenn man zu viel geträumt, zu oft verzagt auf die Zukunft gewartet hat, dann wird man sich an den Abenden der Einsamkeit dieser Lippen und Küsse erinnern, um die man nicht zu bitten wagte, an diese Augen all jener »belles passantes«, die man an sich vorübergehen ließ.
    Um 9 Uhr 10 am nächsten Morgen fährt ein Greyhound vom Bahnhof zum Flughafen. Blauer kann eine Stadt nicht werden. Ich bin, absurde Zufälligkeit, der einzige Fahrgast in dem mächtigen Vehikel, und David ist der freundlichste, der lustigste Fahrer von allen. »I'm your personal chauffeur, sir«, sagt er grinsend und gibt Gas. Ich habe das alles nicht verdient, aber behalte die Nerven und genieße jeden letzten Meter.
    Ich bin, wie viele andere, wohl so erzogen. Seit ich mich kenne, ist es so. Manchmal kann ich den törichten Gedanken in Zaum halten. Und manchmal nicht, wie jetzt: Glück muss vergolten werden, es fordert Revanche. Manchmal gleich, manchmal viel später. Heute gleich. Nach dem Einchecken bin ich beim Lesen eingeschlafen, die Rache des Körpers für neunzig Tage nonstop, neunzig Nächte zu kurz. Als ich aufwache, höre ich »this is the last call for Mister Andreas Altmann«, springe hoch, sprinte auf den nächsten Schalter zu, frage nach dem gate , drehe in Windgeschwindigkeit ab und – mein allerletzter Fehler auf dem Kontinent – fliege in den kofferschweren Gepäckwagen eines Hochintelligenten, der sich zwei Meter neben mir (statt hinter mir) postierte, stolpere, knalle mit dem Oberkörper auf das hüfthohe Eisengestell, das für Handtaschen gedacht ist, spüre noch den unbändigen Schmerz und sinke – inzwischen bewusstlos und eher unelegant – zu Boden.
    Dreißig Minuten später hebt der Airbus ab. Mit mir und dem Paar gebrochener Rippen. Im linken Brustkorb. (Mein Hausarzt wird es mir freundlicherweise in zwei Tagen am Röntgenbild erklären.) Unergründliches Menschenherz. Mir fehlt nichts, trotz leichtem Zittern, trotz Kurzatmung. Am 91. Tag bin ich dankbarer als je zuvor. Das Unglück war ein Glück, o.k., ein kompliziertes Glück, aber ein Glück. Jeder Fremde will von einem Land überrascht werden, überwältigt, ja hingerissen sein. Australien hat mich zuletzt umgehauen. Um mehr darf einer nicht bitten.
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