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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Autoren: Nora Melling
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EINS
    Das einzig Gute an Berlin ist, dass man untertauchen kann. Zuerst habe ich es im Tiergarten versucht: ein riesiger Park, aber trotzdem noch zu eng. Im Tegeler Forst gibt es zu viele Wanderwege. Auch da trifft man immerzu Menschen. Wenn man für sich sein muss, ist der Grunewald am besten.
    Ich nehme die S-Bahn . Am Bahnhof winde ich mich zwischen den Leuten hindurch zum Hinterausgang, gehe unter ersten Bäumen die schmale Straße entlang. Nach der Ampel habe ich endlich Tannennadeln unter den Füßen. Die Autos können mir auf dem Wanderweg nicht folgen.
    Regnerisches Wetter heute, das die Spaziergänger fernhält. Meine Turnschuhe traben wie Tierpfoten über die feuchte Walderde. Es tropft von den Zweigen in meinen Nacken, ich ziehe den Kopf ein. Vielleicht gehe ich nie mehr zurück in die Stadt. Nie mehr nach Hause. Nie mehr in die Schule. Vielleicht bleibe ich hier, im Wald, verschmelze mit den Bäumen. Dann gäbe es keine Fragen mehr. Keine gelogenen Antworten. Kein geheucheltes «Oh, es gefällt mir hier». Die Wahrheit ist: Berlin ist zum Kotzen. Zu laut, zu grell.
    Nur im Wald ist es still. Darum komme ich her. Ich will allein sein.
    Ich will allein sein und bin es nicht. Da ist wieder dieser schwarze Köter, der mir folgt. Groß und spitzohrig läuft er parallel zu mir durchs Unterholz, nur der Hund, kein Mensch. Verdammter Streuner! Ich werfe ein Stück Holznach ihm. Das Holzstück streift zischend die nassen Blätter, der Hund knurrt, springt geduckt zur Seite und lässt das Geschoss ins Leere gehen. Dumpf kommt es auf dem Waldboden auf. Der Hund ist schon wieder da, läuft weiter und lässt mich nicht aus den Augen. Ob er zu niemandem gehört? Ich weiß nicht, ob ich ihn mag. Es ist kein niedlicher Hund, kein harmloser goldener Kinderbeschützer. Er ist schwarz, struppig und hat kleine schräge Augen, deren Farbe ich nicht erkenne.
    Wenn ich näher komme, flüchtet er geduckt in die Büsche. Ob ich ihn mit Fressen zu mir locken könnte? Nein, ich will ihn nicht so nah bei mir haben. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber ich finde, er hat etwas Dunkles, Bedrohliches an sich, das mir Angst macht.
    Ich folge ein Stück weit der Asphaltstraße, die sie dem Wald mitten ins Gesicht geklebt haben. Fast von allein tragen mich meine Füße zum Grunewaldturm. Dort hinauf kann der Hund mir nicht folgen. Dann bin ich ihn los. Mein Magen knurrt. Ich hätte vorhin etwas essen sollen. Aber wer denkt in solchen Zeiten an Essen? Ich denke gar nicht mehr. Schon seit Wochen nicht.
    Der Grunewaldturm steht auf einem kleinen Berg, und man kann von dort oben bis über die Havel gucken. Die Aussicht ist toll. Ich will die Bäume von oben sehen, Abstand gewinnen, lüge ich mir vor. Dabei ist mir die Aussicht völlig egal. Der Hund ist immer noch da. Ich kann ihn im Gebüsch hören. Ein Auto kommt, Regenfontänen spritzend, angefahren, eins von diesen Familienautos, in denen in der Werbung hinter Mami und Papi glückliche Kinder sitzen. Immer sind es zwei. Verdammte heile Welt.
    Mit schnellen Sprüngen die Stufen hinauf bin ich auf dem Steinsockel. Sie haben den oberen Teil, den rotenBacksteinturm mit der Statue von Kaiser Wilhelm, gesperrt. Ein Schild hängt vor der breiten Holztür: Einsturzgefahr. Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Ist nicht die ganze Welt einsturzgefährdet? Alles, von dem du heute noch denkst, es würde für immer dauern, kann morgen zusammenkrachen. Der Aufgang ist gesperrt, aber ich weiß, wie man trotzdem reinkommt. Ein paar Stufen höher quetsche ich mich durch eine halboffene Seitentür. Dunkel und staubig ist es drinnen, wie ein heimlicher Weg zum Dachboden der Gespenster. Eine Stufe und dann noch eine, und noch eine. Soll ich die Stufen zählen? Heute nicht, ich kenne das Ergebnis sowieso. Zweihundertsieben brüchige Betonstufen sind es.
    Die Tür am Treppenende ist nicht abgeschlossen, aber sie klemmt etwas. Ich stemme sie mit der Schulter auf. Hier auf der Plattform ist die Luft genau wie im Wald, tannenbitter und feucht. Von oben, heißt es, sieht die Welt anders, besser aus. Doch die Welt, auf die ich schaue, ist auch von oben einfach nur grün. Nassgrün.
    Meine Füße, von den vielen Treppenstufen das Steigen gewöhnt, tragen mich weiter bis ganz oben. Ein großer Schritt und ich stehe auf der Brüstung. Warum denke ich jetzt an den Hund? Er folgt mir seit Tagen durch den Wald. Hängt an mir wie eine Zecke. Dort unten, unter dem Blätterdach vor meinen Fußspitzen, kann ich ihn
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