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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Autoren: Nora Melling
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mich zu der Stelle durchgekämpft habe, ist er nicht da. Als es dämmert, gebe ich zitternd vor Kälte und Einsamkeit auf. Ich weiß, ich soll ihn nicht wiedersehen. Besser nicht, hat Thursen gesagt. Besser für wen? Kann ich nicht einmal selbst entscheiden, was für mich gut ist? Dieses eine Mal?
    Die S-Bahn bringt mich nach Hause. Die Bahn! Mein ganzes Leben läuft wie auf Schienen, ohne Lenkrad. Es rumpelt mich vorwärts, ohne nach meinen Wünschen zu fragen. Ein Standardleben für Tausende. Und für mich ist es immer der falsche Weg.
    «Ich brauche eine wärmere Jacke.» Zum ersten Mal seit langer Zeit spreche ich wieder mit meinen Eltern. Mein Vater fragt nicht, wofür. Er will nicht wissen, wo ich meine Zeit verbringe. Ich hätte es ihm ohnehin nichtgesagt. So geht er nur wortlos an sein Portemonnaie und nimmt drei viel zu große Scheine heraus. Drückt sie mir in die Hand. Als könnte eine dicke Jacke auch meine Seele wärmen. Nach dem Abendessen gehe ich zurück in mein Zimmer. Trete gegen meine ungeöffnete Schultasche. Ich mache keine Hausaufgaben, schon lange nicht mehr. Der Tag geht zu Ende. Nachts im Traum sehe ich Thursen, nur ihn allein. Wo ist sein Hund?
    Die Schulstunden sind heute an mir vorbeigezogen wie eine dieser amerikanischen Fernsehserien, hinter Fenstern aus Bildschirmglas. Man hört, beobachtet, aber es sieht nur so aus, als ob es real wäre. In Wirklichkeit ist alles auf einem anderen Kontinent passiert, zu einer anderen Zeit. Ich kann nichts ändern, ob ich hinsehe oder nicht. Ich sitze meine Zeit ab, dann trage ich meine Schulsachen nach Hause. Ich kann in unserer Wohnung nicht atmen, wo mir die grimmige Schwermut den Hals abdrückt. Aber gestern habe ich etwas herausgefunden: Wenn ich währenddessen die Luft anhalte, kann ich durch unsere Wohnung rennen, ohne dass mir die Trauer die Lunge verklebt. Tief Luft holen im Hausflur, Schulmappe ins Zimmer knallen und raus.
    Draußen lasse ich mir heute Zeit. Kaue Kaugummi in der U-Bahn , trödele die Steglitzer Schloßstraße entlang. Ich lasse mich an den Ladenreihen vorbeitreiben, sehe mich nicht in den spiegelnden Schaufensterscheiben, tue so, als sei ich ein Geist. Ich versuche, in der Menschenmenge zu ertrinken. Aber sie spuckt mich wieder aus, als könnte ich schwimmen.
    Ein Afrikaner trommelt einen immergleichen Rhythmus. Patt-pattapatt-patt-patt. Wie ein Kind, das mit der Hand auf den Boden einer Dose schlägt. Straßenmusikantenmit Akkordeon spielen Melodien. Am Straßenrand sitzen Obdachlose, die ihre langen Beine in den Strom der Passanten strecken, als wünschten sie, dass endlich einer im Stolpern sein Geld über sie schüttet. Einer hat einen Hund dabei.
    Ich finde keine passende Jacke. Nirgends. Auch nicht in dem Kaufhaus, vor dem ein entwurzelter Gitarrenspieler zum hundertsten Mal «Im Frühtau zu Berge» spielt.
    Ein Berg. Mein Leben liegt vor mir wie ein viel zu hoher Berg, schroff und felsig. Vielleicht brauche ich eine Jacke für Bergsteiger. Eine, die auch auf einem lebensfeindlichen Achttausender noch warm hält. Ich werfe einen zweiten Blick auf den schmuddeligen Jungen mit dem struppig schwarzen Hund. Ein Euro aus meinem Portemonnaie landet klappernd in seiner Dose. Es ist nicht Thursen und der Hund nicht seiner, aber er erinnert mich trotzdem an ihn. Dann gehe ich weiter zu diesem riesigen Laden für Expeditionsbedarf. Träume davon, eins der Zelte zu nehmen, einen Schlafsack, alles in einen Rucksack zu packen und zu verschwinden. Ich könnte meinen Namen ändern und nie mehr zurückkommen. Dann wäre dieses Leben beendet, und ich hätte mein Versprechen trotzdem nicht gebrochen, irgendwie.
    Warum tue ich es nicht? Kaufe nur meine Jacke. Dick, warm und in Farben, die einen im Wald unsichtbar machen. Grünbraun wie Baumrinde und Moos. Der Verkäufer verstaut sie für mich mit verbindlichem Lächeln in einer Plastiktüte, nimmt meine Geldscheine, tippt in seine Kasse und schiebt mir das Wechselgeld über die Theke. Eine Münze fällt klingelnd auf den Boden, als ich meine Faust darum schließen will. Verdammt, das Klingeln der Münzen erinnert mich an was. Erinnert mich wieder an denJungen mit dem Hund, der da mit seiner Geldschale sitzt. Sah der Hund nicht doch so aus wie Thursens? Was, wenn der Junge etwas weiß? Was, wenn er etwas mit Thursen zu tun hat? Ich bücke mich nach dem Euro, stopfe das Wechselgeld in meine Hosentasche und habe es plötzlich eilig. Schon bin ich draußen auf dem Bürgersteig, die Tüte
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