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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Autoren: Nora Melling
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nicht mehr sehen.
    Ich versuche mir einzureden, dass man von der Mauerbrüstung die beste Aussicht hat. Eine Lüge, genau wie die, ich könne fliegen. Ich kann es nicht. Zum Glück kann ich es nicht. Ein Schritt noch, und ich werde wie ein Stein zu Boden fallen. Das Einzige, was wirklich zählt, ist, ob es reicht. Ob es hoch genug ist. Wie viele Meter brauchtman, damit man den Aufprall nicht mehr spürt? Damit das Leben mit einem Schlag vorbei ist? Ich bin feige. Ich will keine Schmerzen, keine gebrochenen Glieder, wenn es nicht klappt. Langsam breite ich die Arme aus.
    Von hinten windet sich eine Hand um meinen Arm, packt zu. Erschreckt fahre ich herum, verliere das Gleichgewicht, rutsche und wäre beinahe doch gefallen. Aber ich werde gehalten. Da steht der seltsamste Junge, dem ich je begegnet bin, und hält mich wie ein Anker im Leben.

ZWEI
    Es war ein verregneter Junitag, an dem der Möbelwagen kam. Jetzt haben wir September, und es regnet immer noch. Dreieinhalb Monate. Dreieinhalb Monate, um Abstand zu gewinnen, wie es meine Eltern nennen. Dreieinhalb Monate, um in einer fremden Stadt und an einer fremden Schule einzugehen, wie eine Pflanze, die man verpflanzt, aber deren Wurzeln man vergessen hat.
    Meine Wurzeln sind in Hamburg geblieben. Die Stadt habe ich mir nicht ausgesucht. Ich bin dort geboren, erst ich, dann mein kleiner Bruder. Wir hatten ein Reihenhaus mit einem schmalen Garten, in dem ich Erdbeeren zog und mein Bruder Bohnenpflanzen an der Wand zur Garage. Ich war eifersüchtig, dass seine Pflanzen größer waren als meine, und er darüber, dass meine Erdbeeren besser schmeckten als seine Bohnen. Er hat mir immer heimlich die Hälfte weggefressen.
    Und dann hat er im letzten Winter beim Rodeln nicht aufgepasst, ist gegen einen Baum gerast und hat sich dasBein gebrochen. Wir mussten einen Krankenwagen rufen, und er wurde ins Krankenhaus gebracht, in die Notaufnahme. Auf dem ganzen Weg dorthin hat er geschrien und geheult, aber wir haben ihn getröstet und gesagt, es wäre nicht so schlimm. Alles würde bald wieder gut. Natürlich wurde sein Bein geröntgt und eingegipst. Die Ärzte im Krankenhaus haben dann noch eine Kleinigkeit gefunden auf dem Röntgenbild, die sie nicht richtig verstanden haben. Sie haben den Gips abgemacht und nochmal geröntgt. Untersucht. Dann haben sie verstanden. Die Kleinigkeit, die da auf dem Bild zu sehen war, war der Tod, der in seinem Körper lauerte. Krebs. Überall in seinem Körper: kleine, bösartige Knoten. Das Wort Metastasen hat viele Buchstaben, und jeder steht für eine andere Art des Grauens.
    Chemotherapie. Haarausfall. Schmerzen. Vergebliche Operationen. Am siebzehnten Mai starb er. Kurz danach waren die Erdbeeren reif.
    Drei Tage später wurde er beerdigt. Meine Eltern haben unser Zuhause nicht mehr ertragen. Als sei die Luft im Haus verpestet. Als seien sie von dem Tag an gegen den Garten allergisch. Alle seine Sachen, nein, alles, was überhaupt an ihn erinnerte, haben sie in einen Müllcontainer geworfen und den Deckel zugemacht. Was wir einpackten aus siebzehn Jahren Familienleben, passte in den kleinsten Möbelwagen. Sie sind weggerannt, aus Hamburg geflüchtet, und haben ihn zurückgelassen. Ganz allein.
    Ich will zu ihm! Mit ihm reden! Wenigstens will ich einen Platz, wo ich ihm nahe sein, um ihn trauern kann. Bohnen, die sich um seinen Grabstein ranken. Ich will Erdbeeren auf sein Grab pflanzen und denken, dass er die alle ganz allein essen darf.
    Seitdem laufe ich durch diese Stadt. Laufen sagen die Berliner, auch wenn sie gehen meinen. Berlin. Ich weiß, es ist die falsche Stadt, und ich werde ihn hier nicht finden, aber still sitzen kann ich trotzdem nicht. Manchmal muss ich laufen, rennen, bis mir mit der Puste die Gedanken ausgehen. Bis ich nur noch Rhythmus bin. Füße, die gleichmäßig auf den Boden hämmern. Beine, die vorschwingen. Schritt-Schritt, Schritt-Schritt.
     
    Heute ist ein besonderer Tag. Heute ist der schlimmste Tag. Heute ist der Tag, an dem ich es nicht mehr aushalte, an dem ich bereit bin, alles zu tun, damit der Schmerz aufhört. Heute habe ich Geburtstag. Und zum ersten Mal ist mein Bruder nicht dabei. Die Torte mit der großen 17 und meinem Namen, Luisa, darauf habe ich wie unabsichtlich vom Tisch gewischt. Meinen Eltern fror das gezwungene Lächeln auf dem Gesicht ein, als sie vor ihnen auf den Teppich klatschte. Keine Ahnung, was in den albernen Päckchen auf dem Tisch war. Ich habe mein Lebenslicht mit der flachen Hand
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