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Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Autoren: Nora Melling
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Nicht besser für mich, sondern für all die anderen, die bei Sonnenschein aus den Häusern kommen und den Wald für sich beanspruchen. Jogger überholen und rempeln mich mit ihren eifrig schwingenden Ellenbogen aus dem Weg. Mütter mit Babybuggysmachen Mountainbikern Platz. An einer flachen Uferstelle schüttelt ein brauner Hund mit klitschnassem Fell sein Havelbadewasser über mich. Eiskalt und eklig. Ich bin zu tot, um zu schreien, suche nur mit meinen Augen nach einem anderen Hund und dessen Begleiter in einem langen schwarzen Mantel.
    Ich folge dem Wanderweg, der den See umrundet. Von hinten kommt, Sturm klingelnd, eine Familie auf Fahrrädern angesaust. Ich war in Gedanken, weiche hastig aus. Ich knicke um und stolpere, mit den Händen nach Halt suchend, gegen das Schild am Zaun, der hier den Schilfgürtel schützt. «Betreten verboten, Ruhezone für Wasservögel» steht auf dem Schild. Ob die Enten mir wohl etwas von ihrer Ruhe abgeben?
    Ich bin nicht die Erste, die sich ihren Weg durchs Schilf bahnt. Ein Trampelpfad führt zu einer verborgenen Badestelle, übrig geblieben aus Sommertagen. Die grüngrauen Schilfhalme sind in einem unordentlichen Halbkreis niedergetreten und sumpfbeschmutzt. Ich gehe noch ein paar Schritte weiter. Die Stimmen der Spaziergänger sind nur noch ein entferntes Gemurmel, als ich endlich am Ufer stehe, abseits, bis zu den Hüften im Schilf. Wasser plätschert. Ein Teichhuhn stößt sich ab und paddelt auf den See hinaus. Ich mache einen Schritt vorwärts, will ihm mit meinen Blicken folgen. Ein Schritt zu viel, die Erde gibt nach, mein Fuß sinkt ein und wird nass. Da ist es. Ein Knurren. Leise, fast nicht zu hören. Ich sehe über die Schulter. Nichts.
    Thursen? Ist das Thursens Hund, der mich beobachtet? Ganz langsam ziehe ich den anderen Fuß nach. Stehe im Wasser, den Blick auf den See, lausche.
    Ein Knacken hinter mir, Schilf bricht, ein Hecheln. Ichfahre herum, so schnell, wie ich mich im Sumpf bewegen kann, ohne meine Schuhe zu verlieren. Der schwarze Hund steht hinter mir, geduckt, nur ein paar Meter entfernt. Als ich auf ihn zugehe, springt er fort. «Thursen?»
    Was denkt er, wie wenig wichtig ich meine Versprechen nehme? Glaubt er im Ernst, ich würde mich im See ertränken? Ich laufe zurück zum Weg, sehe den Hund mit einem eleganten Satz über den Zaun springen. Schreie ihm nach, in den Wald hinein, wo sich irgendwo zwischen den Bäumen sein Herr versteckt: «Thursen! Verdammt! Ich kann schwimmen!»
    Meine Schuhe sind vollgesogen mit Wasser, die Füße eiskalt. Trotzdem klettere ich über den Zaun, überquere den Weg und stolpere in den Wald. Vorjähriges Laub knistert unter meinen Füßen, und Brombeerranken haken sich an meinen Hosenbeinen fest. «Thursen!», schreie ich. Dränge mich an Holunderbüschen vorbei und scheuche Vögel auf. Der Wald vor mir bleibt leer. Er ist nicht da. Thursen nicht, und auch sein Hund nicht. Nach zwei Stunden stolpere ich müde aus dem Unterholz auf einen fremden Weg. Als mir ein alter Mann mit seinem Dackel begegnet, frage ich, wo der nächste Bahnhof ist. Ich weiß nicht, wo ich bin, und habe keine Ahnung, wo überall ich war. Ich will es auch nicht wissen.
    Zu Hause schließe ich mich in meinem Zimmer ein und lege mich zitternd ins Bett, ziehe die Decke über meinen Kopf. Trotz der Sonne fühle ich mich krank. Ich hoffe, ich werde heiser, dann habe ich endlich einen Grund, nicht zu sprechen.
    Jemand klopft an meine Tür. Bekomme ich etwa Besuch? Ich will nicht öffnen. Ein Papier zwängt sich knisternd unter meiner Zimmertür durch, steckt fest und zerknickt.Ich fluche, wickle mich in die Decke und schließe auf. Lotti steht da und hat ein Bild für mich gemalt. Da seien wir drauf, erklärt sie mir stolz, ihre neuen Nachbarn. Ich mit meinen Eltern.
    Nur wir drei, der Familienrest. Sie hat meine Tränen nicht verstanden, hat meinen Bruder ja nicht gekannt.
     
    Ich werde nicht krank. Ein paar Tage noch streife ich auf der Suche nach Thursen durch den Wald nahe dem Turm. Dann zieht der Himmel wieder seine graue Gardine zu. Der Herbst hat den Sommer endgültig besiegt und feiert mit Regen. Meine Haare hängen mir in feuchten Strähnen ins Gesicht, und die Tropfen laufen mir an der Nase herab. Ich friere. Endlich einmal haben meine Seele und mein Körper die gleiche Temperatur. Ich habe den Wald fast für mich allein. Einmal meine ich ganz hinten, dort wo die jungen Eschen eng zusammenstehen, Thursens Hund gesehen zu haben. Aber als ich
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