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Die Enklave

Die Enklave

Titel: Die Enklave
Autoren: Michael Ann; Pfingstl Aguirre
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ZWEI
    Ich wurde während des zweiten Holocaust geboren. Man erzählte uns Legenden von einer Zeit, in der die Menschen länger lebten; ich hielt sie für nichts weiter als Gerüchte. In meiner Welt erreichte niemand auch nur das vierzigste Lebensjahr.
    Heute war mein Geburtstag. Mit jedem Jahr wuchs die Angst, und dieses Mal war es noch schlimmer. Ich lebte in einer Enklave, in der der Älteste gerade fünfundzwanzig geworden war. Sein Gesicht war verwittert, und seine Finger zitterten bei jeder noch so kleinen Tätigkeit. Manche flüsterten sich zu, dass man ihm einen Gefallen tun würde, wenn man ihn tötete. Aber was sie wirklich meinten, war, dass sie durch die immer tiefer werdenden Furchen in seiner Haut nicht an ihre eigene Zukunft erinnert werden wollten.
    »Bist du so weit?« Zwirn wartete im Dunkeln auf mich.
    Er trug bereits die Male. Er war zwei Jahre älter als ich, und wenn er das Ritual überlebt hatte, würde ich es auch schaffen. Zwirn war klein und zierlich, all die Entbehrungen hatten tiefe Falten in seine Wangen gegraben und ihn altern lassen. Ich betrachtete meine blassen Unterarme, dann nickte ich. Es war an der Zeit für mich, eine Frau zu werden.
    Die Tunnel waren breit und am Boden mit parallel verlaufenden
Metallstangen ausgelegt. Wir hatten Wracks gefunden, und sie mochten einmal als eine Art Fortbewegungsmittel gedient haben, aber jetzt lagen sie auf der Seite wie große tote Tiere. Manchmal, in Notfällen, benutzten wir sie als Unterschlupf. Wenn ein Jagdtrupp angegriffen wurde, bevor er die Zuflucht erreichte, konnte eine Metallwand zwischen den Jägern und ihren hungrigen Feinden lebensrettend sein.
    Ich war natürlich noch nie außerhalb der Enklave gewesen. Sie war alles, was ich von der Welt kannte, in Dunkelheit gehüllt und in wabernden Rauch. Ihre Mauern waren alt, aus rechtwinkligen Quadern erbaut. Einst waren sie bunt gewesen, aber die Jahre hatten sie ergrauen lassen. Für Farbe sorgten einzig und allein die Dinge, die wir in den Tiefen des Tunnellabyrinths zusammenklaubten.
    Ich folgte Zwirn durch das Gassengewirr und ließ meinen Blick über vertraute Objekte schweifen. Mein Lieblingsgegenstand war ein Bild von einem Mädchen auf einer weißen Wolke. Ich konnte nicht erkennen, was sie in der Hand hielt, dieser Teil des Bildes war zu verwittert. Aber die Worte »HIMMLISCHER SCHINKEN«, in leuchtendem Rot geschrieben, sahen wunderbar aus. Ich wusste zwar nicht, was das war, aber dem Gesichtsausdruck des Mädchens nach zu urteilen, muss es wundervoll geschmeckt haben.
    Am Tag der Namensgebung versammelte sich die gesamte Enklave. Das heißt jeder, der lange genug überlebt hatte, um einen Namen zu bekommen. Wir verloren so viele, wenn sie noch ganz jung waren, dass wir die Bälger einfach »Junge« oder »Mädchen« nannten, dazu eine Nummer. Da unsere Enklave klein war – und immer noch kleiner wurde –, kannte ich jedes der im Zwielicht nur spärlich beleuchteten Gesichter.
Ich tat mein Bestes, um zu verhindern, dass mein Magen sich in Erwartung der bevorstehenden Schmerzen zusammenkrampfte; hinzu kam noch die Angst, dass man mir einen fürchterlichen Namen verpassen könnte, der dann bis zu meinem Tod an mir kleben würde.
    Bitte lass es etwas Gutes sein.
    Der Älteste, der mit dem Namen »Dreifuß« geschlagen war, ging in die Mitte des Kreises. Er blieb vor dem Feuer stehen, und im Schein der Flammen leuchtete seine Haut in den schrecklichsten Farbtönen. Mit einer Hand winkte er mich heran.
    Als ich bei ihm war, erhob er das Wort: »Möge jeder Jäger sein Geschenk bringen.«
    Die anderen trugen ihre Geschenke herbei und stapelten sie vor meinen Füßen. Es war eine Ansammlung interessanter Gegenstände, und bei manchen hatte ich nicht die geringste Ahnung, welchem Zweck sie einmal gedient haben mochten. Zur Dekoration vielleicht? Die Menschen in der Welt vor der unseren schienen von Dingen besessen gewesen zu sein, die nur dazu da waren, hübsch auszusehen. Ich selbst konnte mir so etwas nicht einmal vorstellen.
    Nachdem sie fertig waren, wandte sich Dreifuß an mich: »Es ist an der Zeit.«
    Die Gruppe wurde still. Schreie hallten durch die Tunnel. Irgendwo ganz in der Nähe litt jemand Schmerzen, aber er war nicht alt genug, als dass ich einen Namen für ihn gehabt hätte. Es schien, dass wir einen weiteren Einwohner verlieren würden, noch bevor das hier zu Ende war. Fieber und Krankheit setzten uns zu, und der Medizinmann unserer Enklave richtete mehr Schaden an,
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