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Die Enklave

Die Enklave

Titel: Die Enklave
Autoren: Michael Ann; Pfingstl Aguirre
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als er Gutes vollbrachte,
wie es schien. Doch ich hatte gelernt, seine Behandlungsmethoden nicht in Frage zu stellen. Hier in der Enklave war es nicht ratsam, zu viel eigenständiges Denken an den Tag zu legen.
    Diese Regeln ermöglichen es uns zu überleben , sagte Dreifuß immer. Wenn du dich nicht daran halten kannst, steht es dir frei, Oben dein Glück zu versuchen. Es lag etwas Bösartiges in seinem Charakter, und ich wusste nicht, ob er schon immer so gewesen war oder ob das Alter ihn so hatte werden lassen. Und jetzt stand er vor mir, bereit, mein Blut zu nehmen.
    Auch wenn ich noch nie bei dem Ritual zugesehen hatte, wusste ich, was mich erwartete. Ich streckte meine Arme aus. Das Rasiermesser glänzte im Schein des Feuers. Es war unser wertvollster Besitz, und der Älteste hielt es immer blitzblank und scharf. Er machte drei gezackte Schnitte in meinen linken Arm, und ich hielt den Schmerz so lange im Zaum, bis er sich zu einem stummen Schrei in meinem Inneren zusammenkrümmte; ich würde der Enklave keine Schande bereiten, indem ich weinte. Mir blieb gerade noch genug Zeit, mich innerlich auf die nächsten Schnitte vorzubereiten, da ritzte er schon meinen rechten Arm auf. Ich biss die Zähne zusammen, und heißes Blut tropfte zu Boden. Nicht viel. Die Schnitte waren nur oberflächlich, symbolisch.
    »Schließ deine Augen«, sagte er.
    Ich gehorchte. Der Älteste beugte sich nach vorn und breitete die Geschenke vor mir aus, dann nahm er meine Hand. Seine Finger waren kalt und dünn. Der Gegenstand, auf den mein Blut fiel, würde meinen Namen bestimmen. Mit geschlossenen Augen hörte ich den Atem der anderen, still und andächtig. Eine Bewegung neben mir.

    »Öffne deine Augen und begrüße die Welt, Jägerin. Von heute an soll dein Name ›Zwei‹ sein.«
    Ich sah, dass der Älteste eine Karte in der Hand hielt. Sie war vergilbt, hatte Risse und Flecken. Die Rückseite zierte ein hübsches rotes Muster, und auf der Vorderseite war etwas abgebildet, das aussah wie das Blatt einer Schaufel, daneben die Zahl zwei. Außerdem war sie mit meinem Blut gesprenkelt, was bedeutete, dass ich sie immer bei mir tragen musste. Ich nahm die Karte entgegen und murmelte meinen Dank.
    Seltsam. Ich war nicht mehr Mädchen15. Ich würde mich erst an meinen Namen gewöhnen müssen.
    Die Zuschauer zerstreuten sich wieder, nickten mir respektvoll zu, während sie sich abermals an ihre Aufgaben machten. Die Zeremonie der Namensgebung war vorüber, und jemand musste unser Essen erlegen, aufsammeln, was brauchbar war. Unsere Arbeit nahm nie ein Ende.
    »Du warst sehr tapfer«, sagte Zwirn. »Jetzt kümmern wir uns um deine Arme.«
    Es war nur gut, dass kein Publikum mehr anwesend war, denn jetzt ließ mich meine Tapferkeit im Stich. Ich weinte, als er das heiße Metall auf meine Haut presste. Sechs Narben, die beweisen würden, dass ich stark genug war, mich eine Jägerin zu nennen. Andere Bürger erhielten weniger: Schaffer bekamen drei Narben; Zeuger nur eine. Solange irgendjemand zurückdenken konnte, hatte die Zahl der Narben auf den Armen für die Aufgabe gestanden, die ein Bürger hatte.
    Aus zwei Gründen konnten wir die Schnitte nicht auf natürliche Art verheilen lassen: Sie schlossen sich nicht richtig, und dann infizierten sie sich. Im Lauf der Jahre hatten wir zu
viele wegen des Namensgebungsrituals verloren, weil sie schrien und bettelten. Sie hielten den rot glühenden Abschluss des Rituals nicht aus. Mittlerweile ließ sich Zwirn vom Anblick der Tränen jedoch nicht mehr beeindrucken, und ich war froh, dass er sie gar nicht erst zur Kenntnis nahm.
    Ich bin Zwei.
    Tränen strömten über meine Wangen, während die Nervenenden abstarben, und die Narben erschienen. Eine nach der anderen, als Beleg, dass ich überstehen würde, was auch immer mir in den Tunneln begegnen mochte. Mein ganzes Leben lang hatte ich für diesen Tag trainiert. Ich konnte mit meinen Messern ebenso gut umgehen wie mit der Keule. Jeden Bissen meiner Nahrung hatte ich in dem Bewusstsein verzehrt, dass jemand anderer ihn erlegt hatte und eines Tages ich an der Reihe sein würde, das Essen für die Bälger heranzuschaffen.
    Dieser Tag war nun gekommen. Mädchen15 war tot.
    Lang lebe Zwei.
     
    Nach der Namensgebung gaben zwei Freunde eine Feier für mich. Sie warteten im gemeinsamen Bereich auf mich. Als Bälger hatten wir uns angefreundet, aber charakterliche Veranlagung und körperliche Fähigkeiten hatten unsere Lebenswege in verschiedene
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