Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen

Titel: Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
Autoren: Nora Melling
Vom Netzwerk:
Moment wegspringe, vorwärts über die Brüstung hechte.
    Er räuspert sich, klingt trotzdem heiser. «Denk mal an die, die du zurücklassen würdest.»
    «Mich würde keiner vermissen. Die haben alle genug mit sich selbst zu tun.»
    «Glaub das mal nicht.»
    «Es ist mein Leben. Ich kann bestimmen, wann es zu Ende sein soll.»
    Er seufzt. «Wie heißt du?»
    «Luisa.»
    «Luisa», wiederholt er dann, lässt meinen Namen sanft über seine Zunge gleiten wie ein Bonbon, dessen Geschmack man ergründen will. Luisa. Zum ersten Mal bin ich meinen Eltern nicht böse wegen dieses Namens. Aus seinem Mund klingt er warm.
    «Ich würde dich vermissen, Luisa.»
    Er wartet meine Antwort nicht ab. Als habe er mir lange genug Zeit gegeben, zu entscheiden, ob ich springe oder ihm endlich mein Versprechen gebe, wird sein Griff fester. Er zieht mich zur Treppe. Öffnet vorsichtig die obere Tür. Er geht voraus, und ich folge ihm Stufe um Stufe hinab. Seine Schritte sind geschmeidig und lautlos auf dem Beton. Ich höre, wie sein Mantel an der Wand entlangwischt. Irgendwo draußen schlägt eine Autotür zu. Er wartet einen Moment, guckt durch den Spalt der nur halbzu öffnenden Seitentür am Ende der Innentreppe. Dann zwängen wir uns nach draußen. Selbst dabei lässt er mich nicht los. Langsam reicht es mir. Was denkt er sich denn? Dass ich hochlaufe, zurück, und mich vor seinen Augen doch noch hinunterstürze? Das kann ich doch morgen tun. Übermorgen. Irgendwann und irgendwo anders, dann, wenn es nötig ist. Ich habe doch keine Eile.
    «Du kannst mich ruhig loslassen!», sage ich. Drehe ein bisschen mit meiner Hand hin und her.
    Er hält mich nur fester. «Gleich», sagt er. Die Sockelstufen springt er hinunter, zieht mich hinter sich her, über den Parkplatz, ein Stück weit quer durch den Wald.
    Dann sind wir an der Straße, und er bleibt stehen, ein paar Schritte vom Asphalt entfernt zwischen den letzten Bäumen. Seine regennassen, dunklen Haarsträhnen sind ihm ins Gesicht geweht, und er schiebt sie mit dem Zeigefinger zur Seite.
    Er guckt kurz, ob kein Auto und kein Spaziergänger kommen, dann packt er mich bei den Schultern und dreht mich zu sich. Sieht mir direkt in die Augen. Ich bin atemlos, nicht nur vom Gehen. Sein Blick ist hart, zwingend. Da ist keine Wärme mehr. Das Verstehen, das noch vor ein paar Schritten in seinem Blick gelegen hat, hat etwas Dunklem Platz gemacht, das ich nicht deuten kann. Er holt noch einmal Luft. «Und jetzt wirst du es mir versprechen!», verlangt er.
    Ich fühle die Worte als Hauch in meinem Gesicht, so heftig atmet er. Trotzdem, ich halte seinem Blick stand. Ich mag es nicht, wenn man mich zwingt, nicht mal, wenn man so fremdartig, so geheimnisvoll und faszinierend ist wie er. Nicht einmal dann. Und im Übrigen, und das lockt ein schiefes Grinsen auf mein Gesicht: Er kann nicht inmeinen Kopf sehen. Was auch immer ich verspreche, woher will er wissen, dass ich es halte?
    Aber auf einmal bin ich mir nicht mehr sicher, ob er nicht doch auf irgendeine Art meine Gedanken hören kann. Er ist so anders als alle Menschen, die ich kenne. So blass, so grau. Vielleicht gelten normale Regeln für ihn nicht? Seine Hände bohren sich in meine Schultern, fast wie Adlerkrallen in ihre Beute. Es tut weh. «Wage es nicht! Ich beobachte dich!»
    Ich schüttle ihn ab. Bringe einen Schritt Abstand zwischen uns. Was sagt er da? «Du beobachtest mich?» Ich komme mir mit einem Mal überwacht vor und weiß nicht, ob mir das gefällt. Hat er alle meine Schritte durch den Wald verfolgt und so meinen Zugang zum Turm entdeckt? Ich habe mich schon gefragt, wie er dort hinaufgekommen ist. Nicht mal seine Schritte auf der Treppe habe ich gehört. «Wie lange schon?»
    Er zuckt die Schultern. «Einen Monat vielleicht. Ich weiß nicht genau.»
    Und ich war wohl so mit mir selbst beschäftigt, dass ich ihn nie bemerkt habe. Da fällt mir wieder der Hund ein, den ich so gerne abgeschüttelt hätte, der Streuner. Und wenn der gar nicht herrenlos war? Sollte er mich nur davon ablenken, tiefer in die Büsche zu schauen, dorthin, wo sein Herr sich verborgen hielt? Ich stelle sie mir nebeneinander vor. Den schmalen, schlanken Jungen und den struppigen Hund, beide schwarzgrau wie ihre eigenen Schatten.
    «Der schwarze Hund, er gehört zu dir, nicht wahr?», frage ich.
    Er verzieht das Gesicht. Es ist nur ein hochgezogener Mundwinkel, kein echtes Lächeln. «Sozusagen.»
    Einen Moment schweigt er, holt tief Luft. Atmet
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher