Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Land der Katharerburgen : Leseproben & mehr (German Edition)

Im Land der Katharerburgen : Leseproben & mehr (German Edition)

Titel: Im Land der Katharerburgen : Leseproben & mehr (German Edition)
Autoren: Helene Luise Köppel
Vom Netzwerk:
versuchen, der den Wehrgang der Burg auf der Nordfront unterbrach. In alter Zeit hatten mobile Holztreppen an den Außenwänden die Stockwerke der Türme verbunden, doch diese Treppen gab es nicht mehr. Viollet-le-Duc legte die Leiter an die Fassade des Degré -Turms. Oben angekommen, stellten sie fest, dass die Tür aus den Angeln gerissen war. Rasch räumten sie das morsche Holz zur Seite und durchquerten nacheinander und äußerst vorsichtig den Raum, denn sie hatten Angst, das alte Gebälk könnte unter ihrem Gewicht zusammenbrechen. Erleichtert stiegen sie auf der gegenüberliegenden Seite fünf Stufen wieder hinab und turnten dann waghalsig und erneut im Gänsemarsch auf einem gefährlich schmalen Steinsockel hinüber zum Kapellenturm. Die alten hölzernen Hurden und Geländer, die sich früher hier befanden, waren allesamt verrottet. „Verdammt“, stieß der Architekt enttäuscht hervor, als sie im ersten Stock des Turms angelangt waren und in die Tiefe leuchteten. „Die Leiter ist zu kurz. Was machen wir jetzt?“ Eng aneinandergedrängt standen die Männer mit ihrer Ausrüstung auf einem schmalen Steinsims, von dem aus früher – man konnte die Ansätze noch sehen – eine Wendeltreppe in das Erdgeschoss geführt hatte.
    „Ich könnte mich abseilen“, meinte Jacques nach kurzem Überlegen.
    Nachdem auch Jean-Pierre vor Neugierde und Entdeckungslust brannte, stimmten sie dem Vorschlag zu. Sie banden das eine Ende des Seils um eine Zinne und Jacques hangelte sich in die Tiefe. Dann ließen sie ihm eine Lampe und die Spitzhacke hinab und wünschten ihm viel Glück.
    Viollet-le-Duc, der es vor Spannung kaum aushielt, legte sich auf den Bauch, um Jacques zu beobachten, während Jean-Pierre seinen Freund ängstlich an den Beinen festhielt. Zügig räumte der Junge den Schutt beiseite. „ Holà! “, rief er nach einer Weile, „hier könnte der Eingang sein!“
    Der Architekt war nicht mehr aufzuhalten. „Warte, ich komme“, schrie er hinunter, streifte die dicken Lederhandschuhe über und ließ sich, unter Jean-Pierres Protest und ohne einen Gedanken an den Rückweg zu verschwenden, am Seil in die Tiefe.
    Jacques deutete mit dem Pickel auf eine hölzerne Abdeckung, die offenbar jemand nach dem Unglück angebracht und mit mehreren massiven Quadern beschwert hatte. Gemeinsam schoben sie die Steine und das Brett beiseite. Zehn verwitterte Stufen kamen zum Vorschein, keine glich in der Höhe der anderen. Unten angekommen, entdeckten sie, dass sich an dieser Stelle drei niedrige Gänge verzweigten. Es war totenstill hier, doch irgendwo tropfte Wasser. Der Architekt zog seinen Kompass hervor. Ein Gang führte nach Westen, also laut Plan in die Schlosskapelle und ins Schloss selbst, ein weiterer nach Osten, in Richtung Zwinger und Außenmauer. Der dritte, der nach Norden führte, endete bereits nach wenigen Metern im Fels. Viollet-le-Duc beschloss, die Westrichtung zu nehmen. Jacques ging mit der Lampe voran. Überall lagen auch hier Bruchsteine, Quader und Geröll herum sowie vermodertes Holz und alte Säcke.
    „Hier, Herr Architekt“, rief plötzlich Jacques aufgeregt, als sie ungefähr fünfzig Meter weit vorangekommen waren. Er deutete auf einen niedrigen Seitenstollen. „Das ist der kleine Gang, der zu dem Ort führt, an dem damals das Unglück geschah. Wir haben an irgendwelchen eisernen Ringen geturnt, die dort hängen, bis einer der Buckelsteine nachgab und einen Fünfjährigen unter sich begrub.“
    „Eiserne Ringe? Es könnte sich um ein Verlies handeln!“ Aufgeregt kroch Viollet-le-Duc auf allen Vieren hinter Jacques in den Stollen, der teils aus blankem Fels und teils aus gemauerten Buckelsteinen bestand. Nach ungefähr vier Metern konnten sich die beiden wieder aufrichten. Der Architekt nahm Jacques die Lampe aus der Hand und sah sich genauer um. Für einen Kerker war dieser kleine, abseits gelegene Raum ungeeignet, für abenteuerlustige Kinder jedoch musste er ein Eldorado gewesen sein. Noch immer hingen in unterschiedlichen Abständen zahlreiche verrostete Ringe, die vermutlich zum Aufhängen von Getreidesäcken gedient hatten, damit die Mäuse nicht an sie herankamen.
    Jacques deutete auf das Stück Mauerwerk, das seinerzeit eingebrochen war. Der Buckelstein, an dem noch immer der Ring hing, lag am Boden.
    „Merkwürdig“, meinte Viollet-le-Duc, als er an einigen anderen Ringen zog, „da hätte es doch eines Ochsen bedurft, um diese Steine zu bewegen.“ Er bückte sich, um den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher