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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang
Autoren: Günter Grass
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hieß, Konrad Pokriefke habe durch gute Haltung und vorbildlich soziales Verhalten diese einmalige Sondererlaubnis erwirkt. Seine Mithäftlinge waren außerhalb, wie ich hörte, mit Gartenarbeit beschäftigt.
    Konny erwartete mich in der von ihm bezogenen Ecke.
Ein verrotteter Kasten, diese Anstalt, doch hieß es, ein Neubau moderner Art sei in Planung. Einerseits glaubte ich, mittlerweile gegen Überraschungen gefeit zu sein, andererseits fürchtete ich die plötzlichen Eingebungen meines Sohnes.
    Als ich eintrat und zuerst nur fleckige Wände wahrnahm, saß er in seinem Norwegerpullover vor einem an die Wand gestellten Tisch und sagte, ohne aufzublicken: »Na Vati?«
    Mit nur andeutender Geste wies mein Sohn, der unverhofft »Vati« zu mir gesagt hatte, zum Bücherbord, unter dem, was mit einem Blick nicht zu erfassen war, alle gerahmten Fotos - das von David als Wolfgang, Frankfurter jung und alt, die beiden dem U-Bootkommandanten Marinesko zugesprochenen - abgeräumt, abgehängt waren. Nichts Neues hing an Stelle der Fotos. Ich überflog prüfend die Buchrücken auf dem Bücherbord: was zu erwarten war, viel Historisches, einiges über neue Technologien, dazwischen zwei Bände Kafka.
    Zu den verschwundenen Fotos sagte ich nichts. Und er schien auch keinen Kommentar erwartet zu haben. Was dann geschah, verlief schnell. Konrad stand auf, hob das nach Wilhelm Gustloff heißende und mit drei roten Punkten markierte Schiffsmodell aus dem Drahtgestell, das zentral auf der Tischplatte stand, legte den Schiffsleib vor das Gerüst, so daß es backbord wie mit Schlagseite auflag, und begann dann, nicht etwa hastig oder wütend, eher mit Vorbedacht seinen Bastlerfleiß mit bloßer Faust zu zerschlagen.
    Das muß schmerzhaft gewesen sein. Nach vier, fünf Schlägen blutete die Handkante seiner rechten Faust. Am Schornstein, den Rettungsbooten, den beiden Masten wird er sich verletzt haben. Dennoch schlug er weiter. Als der Schiffsrumpf seinen Schlägen nicht endgültig nachgeben wollte, hob er das Wrack beidhändig, schwenkte es seitlich aus, hob es in Augenhöhe und ließ es dann auf den Fußboden der Zelle fallen, der aus geölten Dielen bestand. Woraufhin er zertrampelte, was von der Wilhelm Gustloff als Modell geblieben war, zum Schluß die letzten aus den Davits gesprungenen Rettungsboote.
    »Zufrieden jetzt, Vati?« Danach kein Wort mehr. Sein Blick suchte das vergitterte Fenster, blieb daran hängen. Ich habe weißnichtmehrwas gequasselt. Irgendwas Positives.
»Man soll nie aufgeben« oder »Laß uns noch einmal gemeinsam von vorne anfangen« oder irgendeinen Stuß, amerikanischen Filmen nachgeplappert: »Ich bin stolz auf dich.« Auch als ich ging, hatte mein Sohn kein Wort übrig.
Wenige Tage später, nein tags darauf hat mir jemand - er, in dessen Namen ich krebsend vorankam - dringlich geraten, online zu gehen. Er sagte, vielleicht finde sich per Mausklick ein passendes Schlußwort. Bis dahin hatte ich enthaltsam gelebt: nur was der Beruf forderte, ab und zu ein Porno, mehr nicht. Seitdem Konny saß, herrschte ja Auch gab es keinen David mehr.
Mußte lange surfen. Hatte zwar oft den Namen des verfluchten Schiffes im Window, aber nichts Neues oder abschließend Endgültiges. Doch dann kam es dicker als befürchtet.
Unter besonderer Adresse stellte sich in deutscher und englischer Sprache eine Website vor, die als »www.kameradschaft-konrad-pokriefke.de« für jemanden warb, dessen Haltung und Gedankengut vorbildlich seien, den deshalb das verhaßte System eingekerkert habe. »Wir glauben an Dich, wir warten auf Dich, wir folgen Dir...« Undsoweiter undsoweiter.
Das hört nicht auf. Nie hört das auf.

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Günter Grass im Gespräch
    „In meiner Geschichte findet der immerwährende Untergang der „Gustloff“ im Internet statt.“
Herr Grass, was hat Sie angestoßen, den Untergang der Wilhelm Gustloff literarisch zu gestalten?
    Dieses Thema tickt bei mir schon sehr lange. In der »Danziger Trilogie«, aber insbesondere im Roman »Die Rättin« gibt es Hinweise, daß Tulla Pokriefke mit der Gustloff untergegangen sei. Tullas Schicksal bot mir die Möglichkeit, diese größte Schiffskatastrophe der Menschheit, die vergessen und verdrängt wurde, erzählerisch zu gestalten, Tulla als fiktive Person in etwas zu fügen, das mir als Material vorlag. Im Verlauf der Vorüberlegungen zeigte sich, daß mehrere Personen mit dem Stoff verbunden sind: der Landesgruppenleiter der NSDAP in der Schweiz,
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